Der weiße Löwe - Teil 2

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Zweige knackten, als Angavu langsam aus dem tiefen Nebel hervortrat, den Kopf gesenkt, den Blick starr auf Mavunde gerichtet. Sofort eilte Nia unter dem Geäst hervor und lief hinüber zu ihm.

»Da bist du ja!«, rief sie erleichtert. »Wo warst du?«

Angavu sah sie nicht an, stattdessen ruhte sein argwöhnischer Blick weiterhin auf den drei fremden Löwen.

»Ich habe bemerkt, dass du nicht mehr an deinem Platz warst«, sprach er, seine Krallen ins feuchte Laub grabend. »Dann hörte ich Stimmen.«

»Angavu«, erklärte Nia mild und mit aller Überzeugungskraft, die sie aufbringen konnte. »Sie sind nicht hier, um uns zu schaden. Sie möchten nur mit uns reden.«

Angavus Haltung verriet, dass er Nias Überzeugung nicht zu teilen schien.

Im starken Gegensatz zu ihm verzichtete Mavunde auf jegliche Art von Drohgebärde. Mit einer kurzen Geste hielt er seine beiden Gefährten zurück, die sich bereits zu seinen Flanken aufgestellt hatten.

»Sie haben es versprochen«, fügte Nia bestärkend hinzu, in Sorge, Angavu würde etwas entsetzlich Dummes Anstellen.

»Und du gibst etwas auf ihr Wort?«, fragte Angavu skeptisch. »Wie naiv bist du? Welcher Löwe bei klarem Verstand dringt schon in ein fremdes Revier ein, um zu reden?«

»Wenn es dir lieber ist, können wir uns außerhalb des Tals unterhalten«, schlug Mavunde vor, unbeeindruckt von den bedrohlichen Versprechungen, die die Blicke seines Gegenübers ihm entgegenwarfen.

Angavu schnaubte, beinahe belustigt.

»Dir hinaus ins Gebirge folgen? Das hättest du wohl gerne. Lauert dort etwa der Rest eures Packs?« Sein Blick wanderte von einem fremden Löwen zum anderen, als versuchte er bereits ihre Schwachstellen auszumachen.

»Wie wäre es damit:«, knurrte er, »Was auch immer du zu sagen hast, du sagst es hier und jetzt. Und anschließend nimmst du deine beiden Freunde und verschwindest von hier.«

»In Ordnung«, willigte Mavunde ein.

Für einen kurzen Augenblick schien Angavu erstaunt, dass der weiße Löwe sein Angebot angenommen hatte. Doch noch immer bestimmte Misstrauen seine Züge.

»Na dann schieß los, Fremder«, forderte er den Weißen auf.

Unter der ständigen Beobachtung von Angavus wachsamen Augen trat Mavunde vor und wandte sich an Nia. Sein weiser Blick weckte erneut Demut in ihr, während er mit einer Stimme zu sprechen begann, die so klar war, wie der Himmel an einem wolkenlosen Tag am Höhepunkt der Trockenzeit.

»Ich habe bemerkt, dass der Wald für euch noch recht fremd ist«, sprach er. »Wie lange seid ihr hier?«

Angavu schien es nicht zu gefallen, dass der weiße Löwe Fragen stellte, doch abgesehen von einem dumpfen Knurren ließ er ihn vorerst gewähren.

»Seit zehn Tagen«, antwortete Nia aufrichtig. Sie war völlig ahnungslos, warum Mavunde sich für sie und Angavu interessierte. Was konnten sie schon wissen, das diesem weisen Geist bislang entgangen war?

»Und wie seid ihr hierher gekommen?«, hakte Mavunde weiter nach, offenbar darauf bedacht, die Löwin zum Reden zu motivieren.

»Wir sind aus dem Gebirge herabgestiegen.« Nia deutete mit der Schnauze in Richtung des nördlich liegenden Vorgebirges. »Aber ich stamme nicht von dort, sondern vom Plateau.«

»Interessant.« Anstatt Nias Blick zu folgen, wie es seine beiden Begleiter taten, hielt Mavunde weiterhin Blickkontakt zu der Löwin. Nia spürte, dass er sich Mühe gab, die Unterhaltung nicht wie ein Verhör wirken zu lassen, sondern vielmehr wie einen Austausch unter Freunden.

»Hat dich etwas Bestimmtes dazu veranlasst, von dort fortzugehen?«

Nia hielt einen Augenblick inne und legte sich ihre Worte gut zurecht. Sie wollte nichts preisgeben, was den Anlass für eine gewaltsame Auseinandersetzung darstellen mochte, doch gleichzeitig verbat sie es sich, zu lügen.

»Ich -«

»Nia!«, unterbrach Angavu sie zornig. »Du bist ihnen keine Antwort schuldig, vergiss das nicht!«

Nia wandte sich zu Angavu um, der sie eindringlich ansah. Natürlich hatte er recht, sie war niemandem eine Antwort schuldig. Aber dies war vielleicht ihre Gelegenheit, endlich Antworten auf Fragen zu erhalten, die sie schon lange plagten.

»Ich war auf der Flucht vor zwei Löwen, die unser Rudel überfallen haben. Sie haben zwei meiner Freundinnen getötet, einer von ihnen verdanke ich mein Leben. Sie hat sich geopfert, damit ich in das Gebirge entkommen konnte.«

Nias Blick fiel erneut auf ihren Gefährten, der sie noch immer ansah, als wollte er sie zum Schweigen auffordern.

»Dort hat Angavu mich gefunden. Er hat mich hierher gebracht, um den Hyänen zu entgehen, die das Gebirge bewohnen.«

Nia war nicht entgangen, dass die fremde Löwin, die Mavunde als Ajali vorgestellt hatte, unruhig geworden war. Nias Worte schienen in ihr etwas geweckt zu haben, einen tiefsitzenden Groll. Mit äußerster Intensivität wechselte sie Blicke mit Mavunde. Dieser nickte nur knapp.

»Danke, dass du uns das anvertraust, Nia«, sprach der weiße Löwe mit milder Stimme. Dann fügte er hinzu: »Diese Fremden, wie sehen sie aus? Kannst du sie beschreiben?«

Der Gedanke an die beiden mordenden Eindringlinge jagte Nia einen kalten Schauer über den Rücken, sodass ihre Nackenhaare sich aufstellten. Konzentriert versuchte sie sich das Äußere der fremden Löwen ins Gedächtnis zu rufen.

»Sie sind groß und kräftig gebaut, insbesondere ihr Anführer. Dhalimu nennt er sich und sein Blick ist wie ein finsteres Versprechen. Sein rechtes Auge besitzt einen trüben, fahlen Schleier, als sei es mit Nebel gefüllt. Der andere ist sein Bruder und steht ihm in seiner Abscheulichkeit in nichts nach.«

Offenbar genügten Mavunde diese Auskünfte, denn als Nia geendet hatte, stellte er keine weiteren Fragen mehr. Stattdessen wandte er sich an seine Begleiterin. Nia konnte die beiden flüstern hören, verstand jedoch nicht, was sie sagten.

»Nun?«, fragte Angavu schließlich, dem die Heimlichtuerei ganz offensichtlich missfiel. »Habt ihr noch etwas zu sagen, nachdem ihr uns zur Genüge ausgehorcht habt?«

Mavunde wandte sich von der Löwin ab und Nia und Angavu zu. »Nicht ich habe euch etwas zu sagen«, sprach er, »sondern sie.«

Mit einer Geste seiner Schnauze deutete er Ajali an, vorzutreten, was diese auch ohne zu zögern tat.

»Bitte, Ajali«, bat der weiße Löwe freundlich. »Erzähl den beiden, was du uns erzählt hast.«

Ajali sah zwischen Nia und Angavu hin und her, offenbar sicherstellend, dass beide ihr auch zuhörten. Ihr Blick war von Schmerz und Trauer gezeichnet, als sie zu berichten begann.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt