Als sie die Böschung hinabliefen, konnte Nia den See schließlich in seiner ganzen Pracht bewundern. Er war bei Weitem größer als sie ihn aus der Ferne eingeschätzt hatte. Ihn einmal vollständig zu umrunden, hätte vermutlich einen guten Teil des Nachmittags in Anspruch genommen. An vielen Stellen ragten die üppigen Bäume zwischen den Binsen bis ans Ufer oder sogar bis in den See hinein, zahllose Blätter und anderes Geflecht schwammen auf der stillen, nahezu ebenen Wasseroberfläche. In einiger Entfernung konnte Nia sogar ein paar große Vögel mit weißem Gefieder und langen, dicken Schnäbeln ausmachen.
Angavu trat bis ans Ufer heran, beugte sich hinab und benutzte seine Zunge, um zu trinken. Als er genug hatte, deutete er Nia an, ihm zu folgen. Dann machte er einen Satz vom moosübersäten Uferrand und landete direkt im kühlen Nass. Wasser spritzte an ihm empor und ließ sein Fell an seiner Haut kleben.
»Es ist angenehm kühl«, erklärte er, während er das Ufer entlangwatete, die Beine zur Hälfte versunken.
Nia zögerte. Das Wasser war zu trüb, um zu erkennen, was sich hier alles verstecken mochte. Auf dem Plateau hatte sie gesehen, wie Krokodile im Flussbett auf Beute gelauert hatten, um vorüberziehende Gnus oder Zebras zu reißen. Sie wollte nur ungern Opfer einer solchen Attacke werden. Aber sie wusste auch, dass Angavu von ihr erwartete, dass sie aus Angst zurückweichen würde. Genau deshalb vergaß sie alles, was sie über Krokodile und andere unheimliche Flussbewohner zu wissen glaubte und setzte ihre Vorderpfoten ins seichte Wasser. Der Boden fühlte sich merkwürdig weich und glitschig an und Nia meinte zu spüren, wie sich Moos zwischen ihren Pfotenballen verfing. Wie Angavu versprochen hatte, hatte die Kühle des Wassers aber auch eine wohltuende Wirkung, sodass Nia nach nur wenigen Augenblicken des stillen Verharrens auch ihre Hinterpfoten in den See setzte. In der Zwischenzeit hatte sich Angavu bereits ein gutes Stück weiter vorgewagt.
»Der See scheint über große Teile flach zu sein«, vermutete er. »Ich denke, wir können noch ein Stück weiter.«
Nia folgte ihm, zögernd eine Pfote vor die andere setzend.
»Ich glaube, ich bin weit genug gegangen«, entgegnete sie.
Über die Schulter warf Angavu ihr einen seiner schelmischen Blicke zu. »Hast du etwa Sorge, du könntest einen nassen Hintern bekommen?«
»Nein, das ist es nicht.«
»So?«, fragte Angavu. »Na dann macht dir das hier ja bestimmt nichts aus.«
Bevor Nia reagieren konnte, hob der Löwe eine seiner Pfoten empor und schlug kräftig auf die Wasseroberfläche. Das kühle Nass spritzte in einer wahren Fontäne empor und rieselte über Nia und Angavu nieder, der ein breites Grinsen zeigte. Nia spürte, wie ihre Anspannung fiel.
»Was du kannst, kann ich auch!«, rief die Löwin rachedürstig und sprang voran, das Wasser mit ihren Vorderpfoten aufwühlend. Angavu duckte sich weg, konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Mähne die volle Menge abbekam. Sofort holte er zum Gegenschlag aus und schickte Nia weitere Wasserfontänen entgegen. Nia, die allmählich begann, Vergnügen an ihrem Spiel zu finden, wich den Fontänen aus und täuschte einen Rückzug vor, indem sie in Richtung Ufer davonhastete. Als Angavu ihr jedoch folgte, machte sie rasch kehrt und startete eine neue Attacke.
Es dauerte nicht lange, bis die beiden sich triefend nass bis auf die Haut am Ufer gegenüberstanden. Nia sprach es nicht aus, aber es war lange her, dass ihr Herz das letzte Mal so sehr vor Freude aufgeblüht war. Sie musste damals noch ein Junges gewesen sein, immer aufgewühlt und begierig auf Abenteuer. Erst jetzt fiel ihr auf, wie weit diese Zeit zurück lag. Der Tod ihrer Mutter hatte schlagartig alles geändert. Nun stand sie hier inmitten eines völlig fremden Tals gemeinsam mit einem ihr fremden Löwen und das Wasser lief ihr von Kopf und Rücken, während sie herausfordernd mit der Schwanzquaste peitschte.
Angavu sah sie grinsend an, als würde er jeden Augenblick erneut zuschlagen. Doch während er sie betrachtete, änderte sich sein Blick kaum merkbar, bis Nia mit einem Mal wieder das unbändige Verlangen in seinen Augen zu erkennen meinte, mit der er sie auf ihrem langen Weg bereits mehrfach angestarrt hatte.
»Du bist schön«, sprach er und ließ den Blick nicht mehr von Nia ab. Seine Mähne war so durchnässt, dass sie ihm glatt und in langen Strähnen von Kopf und Hals hinabhing, was ihn jedoch keinesfalls weniger interessant wirken ließ.
Nia verging das Lächeln. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Ehe sie sich versah, kam der Löwe ihr mit schweren, bedeutsamen Schritten entgegen, sie zu keinem Zeitpunkt aus den Augen lassend. Sein Geruch mischte sich mit dem allgegenwärtigen Geruch des Wassers, während er sie dicht an dicht passierte, so dass ihre nassen Körper sich berührten. Dann blieb er stehen und wandte sich herum, um seine Schnauze an ihrem Hals zu reiben.
Nia spürte, wie Nervosität und Unruhe in ihr aufstiegen, aber sie ließ es geschehen. Angavu an ihr zu spüren, war ihr längst nicht so unangenehm, wie sie erwartet hätte. Im Gegenteil, seine Nähe gab ihr ein unerwartetes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Solange er bei ihr war, würde ihr niemand etwas antun können. Er würde sie vor allem Übel in der Welt beschützen. Das war das Versprechen, das seine Augen ihr gaben, als er sie eindringlich ansah und das sein Atem ihr zuflüsterte, während seine Schnauze behutsam über ihren Rücken und ihre Flanke glitt. Zwischen seinen kräftigen Beinen war sie sicher.
Ohne Widerwillen ließ Nia sich hinab auf den Boden sinken, während Angavu sich über ihr platzierte und sein Becken vorsichtig gegen ihres presste. Sie ließ ihn gewähren, gab sich ihm hin, denn für den Moment gehörte sie voll und ganz ihm.
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Savanne in der Abendkühle
FantasíaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...