Nia wusste, dass ihr erneutes Versagen dazu führen würde, dass die anderen Löwinnen ihr von nun an noch weniger wohl gesonnen sein würden, als sie es bislang ohnehin schon waren. Doch so elendig sie sich im Angesicht dieser traurigen Tatsache auch fühlte, sobald sie an das dachte, was nur Momente zuvor mit ihr geschehen war, schienen diese Sorgen auf einmal merkwürdig unbedeutend. Was sie wirklich quälte, waren Fragen. Fragen, auf die sie keine Antwort wusste.
Woher waren diese fremden Bilder und Eindrücke gekommen? Es hatte sich alles so echt angefühlt, viel realer als in einem Traum. Und doch war all das, was sie gesehen oder gehört hatte, innerhalb eines einzigen Augenblicks wieder verschwunden.
Die Löwinnen um Samaha hatten sich noch nicht weit entfernt, da wandte sich auch Ardhi zum Gehen. Die Heimat des Rudels lag ein weites Stück östlich an den Berghängen auf der anderen Seite des Plateaus. Je mehr sie sich beeilten, desto früher konnte Ardhi wieder zurück zu den Jägerinnen stoßen. Die Löwin hatte bereits ein paar Schritte zurückgelegt als ihr aufzufallen schien, dass Nia keinerlei Anstalten machte, ihr zu folgen. Ein wenig irritiert sah sie über die Schulter zu ihr zurück.
»Was ist? Kommst du?«
Nia nickte abwesend und ließ ihre Schwanzquaste durch die Luft schnellen. Eine Geste, die Ardhi nur zu gut kannte. Die junge Löwin war wie so oft in Gedanken vertieft, für die sie mehr übrig zu haben schien als für das, was um sie herum geschah. Vermutlich hatte sie die Frage ihrer Freundin nicht einmal wahrgenommen.
Mit einem Seufzen machte Ardhi kehrt und trottete das kurze Stück durch das Gras zurück zu Nia. Vergeblich versuchte sie Blickkontakt mit ihrer Nichte herzustellen. Es war durch und durch offensichtlich, dass Nia irgendetwas beschäftigte.
»Was passiert ist, ist passiert«, sprach Ardhi beschwichtigend. »Du kannst es jetzt nicht mehr ungeschehen machen. Also hör auf, dich zu quälen und dir Vorwürfe zu machen.«
»Nein, es ist...« Nia suchte nach passenden Worten. »Es hat nichts mit der Jagd zu tun. Nicht direkt jedenfalls.«
Skeptisch betrachtete Ardhi ihre junge Freundin. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Als ich gestürzt bin«, bemühte Nia sich um eine Erklärung, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die anderen Löwinnen außer Hörweite waren, »da habe ich etwas gesehen. Ich habe gesehen, wie unsere Welt unterging, wie sie verschluckt wurde von den wilden Launen von Mutter Natur. Alles, was du sehen kannst, war einfach weg. Fortgewaschen vom Fluss der Zeit.«
»Oh, Nia. Du musst dir den Kopf wirklich schlimm angeschlagen haben. Lass mich sehen, ob du blutest.« Ardhi trat vor, um Nias Nacken zu packen und ihren Hinterkopf zu betrachten. Doch Nia wich augenblicklich zurück und sah die ältere Löwin eindringlich an.
»Es war echt, Ardhi. So echt wie die Erde unter meinen Pfoten oder der Wind in meinem Fell. Ich habe das gesamte Land in einen tiefen, schwarzen Abgrund stürzen sehen. Und da war dieser Schrei. Er drang aus der Tiefe hervor.«
Ardhi nahm ihre Pfote zurück und setzte sie auf dem Boden ab, bemüht um eine verständnisvolle Miene.
»Einbildungen können sehr real erscheinen«, sprach sie geduldig. »Ebenso wie Träume. Aber das muss gar nichts bedeuten. Du bist gestürzt und dabei...«
»Die Eindrücke kamen nicht, weil ich gestürzt bin«, unterbrach sie Nia verärgert und ihre Stimme schwoll immer mehr an. »Ich bin gestürzt, gerade weil mein Körper dem, was ich gesehen habe, nicht standgehalten hat. Es war keine Einbildung!«
Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, stampfte Nia mit einer Pfote auf dem Boden auf. Sie bebte förmlich vor Anspannung. So hatte Ardhi sie noch nie zuvor erlebt.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...