Bharids Fell war mit Sand und Staub überzogen, sein Körper mit tiefen Furchen übersät, dort wo Mavundes Krallen die Haut unter dem Fell zerrissen hatten. Der kräftige Löwe atmete schwer, während er sich auf seine Beine kämpfte, der Blick durch den Sturz desorientiert. Als er jedoch sah, dass sich sein Kontrahent nicht mehr rührte, war ihm seine Siegesgewissheit deutlich anzumerken.
Nia hatte inzwischen jede Vorsicht vergessen. Ohne die anderen Löwen zu beachten, eilte sie zu dem am Boden liegenden Mavunde, zutiefst bestürzt, ihn so sehen zu müssen. Sie erkannte, dass er noch atmete, doch seine Augen waren geschlossen. Bharids Prankenschlag musste ihn schwer getroffen haben. Voller Sorge versuchte Nia, ihn wieder zurück ins Bewusstsein zu holen.
»Mavunde, komm zu dir!«
Während ihre Worte verklangen, bemerkte Nia, dass Mavunde die Augen leicht geöffnet hatte. Der weiße Löwe wirkte benommen. Seine Pfoten bewegten sich, doch er schien zu schwach, um sich wieder aufzurichten. Sie wollte ihm helfen, spürte jedoch, dass sie nichts für ihn tun konnte. Gerade setzte sie an, um ihm Trost zuzusprechen, als sie Dhalimus Stimme hinter sich vernahm.
»Dein Ende ist gekommen, Weißer«, verkündete der massige Löwe, nicht ohne eine gehörige Portion an abstoßender Inbrunst. »Ich muss gestehen, dass ich es mir ein wenig anders vorgestellt hatte, nach all dem, was ich über dich gehört habe.«
Dann fiel sein emotionsloser Blick auf Bharid, der bereits auf die Anweisung seines Bruders wartete.
»Bring es zu Ende.«
Die Worte lösten wilde Panik in Nia aus. Ihr Instinkt befahl ihr davonzulaufen, so schnell ihre Beine sie tragen konnten, doch das würde Mavundes sicheren Tod bedeuten. Ohne ihre Hilfe war er den Brüdern ausgeliefert.
Während Bharid an sie herantrat, wandte Nia sich erneut an den weißen Löwen, der vor ihr am Boden lag. Ihre Pfoten auf seine Flanke legend, versuchte sie ihn zum Aufstehen zu bewegen.
»Wir müssen hier weg, Mavunde! Hörst du mich?«
Es war vergeblich. Zwar schien der weiße Löwe Nias Worte zur Kenntnis zu nehmen, doch der Schlag musste ihn derart heftig getroffen haben, dass er nicht in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn sich hochzukämpfen. Nia blieb nur eine Möglichkeit. Sie mussten den Weißen verteidigen, bis dieser sich erholt hatte. In dem vollen Bewusstsein, dass die Brüder sie wohl kaum verschonen würden, wandte sie sich von dem am Boden liegenden Mavunde ab und stellte sich Bharid entgegen.
»Ich lasse nicht zu, dass du ihn tötest«, sprach sie und versperrte dem Löwen den Weg.
Bharid hatte bereits zuvor bewiesen, dass er keinerlei Skrupel verspürte, wenn es darum ging, Löwinnen zu beseitigen, die ihm im Weg standen. Es bestand kein Grund zur Annahme, dass er bei Nia eine Ausnahme machen würde. Der Kampf schien seinen Blutdurst erst richtig entfacht zu haben und sein mit einem Gemisch aus Blut und Sand verklebtes Fell ließ ihn bedrohlicher erscheinen als je zuvor.
»Du solltest lieber um dein Leben laufen, Mädchen«, erklang seine tiefe und einschüchternde Stimme. »Solange du noch die Gelegenheit dazu hast.«
Aber Nia rührte sich nicht vom Fleck. Sie war es Leid davonzulaufen. Selbst die alte Shahidi hatte sich diesem Wahnsinnigen entgegengestellt. Hoffnungen machte die Löwin sich keine, ihr war deutlich bewusst, dass sie Bharid niemals würde die Stirn bieten können. Doch das hielt sie nicht davon ab, ihm deutlich zu machen, dass er seinen Triumph nicht würde einstreichen können, solange sie noch auf ihren vier Pfoten stand. Alles, was Nia tun konnte, war die Brüder lange genug zu beschäftigen, bis Mavunde wieder zu sich kam. Also schloss sie die Augen und atmete tief durch, bereit die endgültige Konsequenz ihrer naiven Handlungen zu spüren. Doch stattdessen geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte.
»Warte, Bruder.« Angavus Stimme erklang aus nächster Nähe. Als Nia die Augen vorsichtig wieder öffnete, sah sie, dass er seine distanzierte Position verlassen und sich unmittelbar ins Geschehen begeben hatte. Er stand nun lediglich ein paar Schritte vor ihr und Bharid. Sein Einmischen schien dem vom Blutvergießen gezeichneten Löwen deutlich zu missfallen. Mit einem Blick, der tiefe Verachtung erkennen ließ, wandte Bharid sich an seinen Bruder.
»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich raushalten?«, keifte er drohend.
Angavus Antwort erklang langsam und beschwichtigend.
»Das hast du gesagt, Bruder«, bestätigte er nickend.
»Warum tust du dann nicht, was ich dir sage?«
Nia nutzte den Augenblick des Schweigens, der sich auftat, während Angavu sich seine Worte sorgfältig zurechtzulegen schien, um den Löwen zu mustern. Seiner beschwichtigenden Art zum Trotz war ihm die Anspannung deutlich anzumerken. Noch immer vermied er es, in Nias Richtung zu blicken.
»Der Kampf ist vorüber«, entgegnete Angavu schließlich auf Bharids auffordernde Gestik hin. »Wir haben den weißen Löwen geschlagen. Ist es nicht das, was ihr wolltet? War es nicht euer Ziel, zu zeigen, dass wir dem Mörder Sahibs überlegen sind?«
Während Bharid noch abzuwägen schien, wie er die Worte seines Bruders zu deuten hatte, erklang eine weitere Stimme.
»Du irrst dich, Bruder«, sprach Dhalimu überraschend und sofort fielen die Blicke aller Anwesenden auf ihn. »Wir sprechen nicht von Überlegenheit, sondern einzig und allein von Gerechtigkeit. Wenn wir den weißen Löwen jetzt ziehen lassen, wird er die Kunde unserer Stärke verbreiten. Auf der Suche nach Unterstützung wird er allen, die ihm begegnen von unserer Macht berichten. Sie werden die Erben Sahibs fürchten wie niemanden sonst, unser Ruf wird über die weiten Ebenen der Savanne hallen, bis hinein in die tiefsten Täler und hinauf auf die höchsten Gipfel.« Stille erfüllte das Plateau, als die anwesenden Löwen innehielten. Dhalimu genoss die Aufmerksamkeit sichtlich.
»Aber das ist es nicht, was ich anstrebe«, fuhr der Löwe mit dem Milchauge fort und seine Stimme begann sich Wort für Wort mit Hass zu füllen, während sein Blick zugleich deutlich machte, dass er sich in seinem Streben von nichts und niemanden beirren lassen würde. »Mein Ziel ist es, den weißen Löwen zu vernichten. Ich werde jede Spur und jede Erinnerung, die er zurückließ, tilgen. Jeder, der es wagt, seinen Namen auszusprechen, wird meinen unbändigen Zorn zu spüren bekommen. Und erst wenn der Sand seine modernden Knochen bedeckt und sein Name für immer aus den Köpfen der Löwen getilgt ist, wird der Gerechtigkeit genüge getan sein. Und es wird nie wieder jemand die Macht Sahibs in Frage stellen. Das ist es, was ich anstrebe.«
Die Worte gingen Nia durch Mark und Bein. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie etwas derart Abscheuliches vernommen. Dies waren nicht die Gedanken eines Löwen, der bereit war, für die Übernahme eines Rudels zu kämpfen und wenn es sein musste auch zu töten. Nein, Derartiges konnte nur dem Geist eines Wahnsinnigen entspringen. Eines Fanatikers. Was Dhalimu unter Gerechtigkeit verstand, war nichts als die widerliche Gier nach Rache.
»Du siehst also, Bruder«, sprach Dhalimu, nun explizit an Angavu gewandt. »Der Tod des Weißen ist unumgänglich.«
Angavu schien die Worte seines Bruders zu akzeptieren, obgleich Nia nicht klar zu sagen wagte, ob sie ihm die Sprache verschlugen oder ihn tatsächlich überzeugt hatten. Jedenfalls wirkte es so, als wollte er sich Dhalimus Willen nicht in den Weg stellen, denn er hatte den Kopf bereits demütig zu Boden gesenkt.
Das allein schien Dhalimu jedoch nicht zu genügen.
»Ich muss gestehen, dass ich allmählich an deiner Überzeugung zu zweifeln beginne, Bruder. Du hast dich verändert. Vielleicht ist es an der Zeit für dich, deine Loyalität unter Beweis zu stellen.«
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Savanne in der Abendkühle
FantasiDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...