Nia keuchte und schnappte verzweifelt nach Luft. Ihre Lunge brannte nach jedem Atemzug und ihre Beine waren schwer wie Stein, doch die bloße Angst trieb sie voran. Noch war nicht klar, was die unbekannten Löwen hierher getrieben hatte, aber das Betreten eines fremden Reviers war in der Regel ein aggressiver Akt. Hinzu kam, dass der Blick des Fremden, der sich deutlich in Nias Bewusstsein gebrannt hatte, ihr bereits verriet, dass die beiden Eindringlinge sich nicht zufällig auf das Plateau verirrt hatten. Als Löwin des Rudels sah Nia es als ihre Pflicht an, Ardhi und die anderen zu warnen. Und zwar so schnell wie möglich.
Sie war bereits ein gutes Stück weit gerannt und ihre Pfoten begannen bereits zu schmerzen, da erkannte sie nicht weit voraus zwei Löwinnen. Sie kamen Nia eilig entgegen. Als sie nicht mehr weit entfernt waren, erkannte sie, dass es sich um Ardhi und Samaha handelte.
»Nia! Bei unserer großen Mutter, was ist mit dir geschehen?«, sprach Ardhi und musterte ihre Nichte besorgt. »Wo warst du? Nachdem wir gehört haben, wie Tazamaji dich zusammengebrüllt hat, haben wir überall nach dir gesucht.«
Ardhis Züge verrieten Erstaunen, als sie Nias Antwort lauschte.
»Eindringlinge!«, keuchte die junge Löwin, nach Atem ringend. »Sie sind auf dem Weg hierher!«
Augenblicklich trat Samaha an sie heran. Jeder wusste, dass sie sich für die Sicherheit des Rudels verantwortlich fühlte, vermutlich sogar mehr als Tazamaji, dessen natürlich Aufgabe es war, das Rudel vor Angriffen von außen zu schützen.
»Wie viele?«, fragte sie ernst.
Nia antwortete nach bestem Wissen. »Zwei Männchen. Sie kommen von Südwesten.«
Natürlich war es nicht auszuschließen, dass die Gruppe noch mehr Eindringlinge zählte, die Nias Blick entgangen waren. Doch für den Moment waren die Löwinnen gezwungen mit dem zu arbeiten, was sie wussten.
»Hast du sie gesehen?«, fragte Samaha weiter.
Nia nickte eindringlich. »Ja, das habe ich. Sie wirkten sehr kräftig.«
Die beiden älteren Löwinnen tauschten bedeutungsschwere Blicke aus. Offenbar hatte Ardhi ihrer Freundin von ihrem jüngsten Gespräch mit Nia erzählt, anders konnte sich Nia den Anflug von Misstrauen in ihren Augen nicht erklären.
»Ihr müsst mir glauben!«, sprach Nia mit Nachdruck, der Verzweiflung nahe. Noch immer hob und senkte sich ihr Brustkorb in einem hektischen Rhythmus. »Sie können jeden Moment hier sein!«
»Ich weiß nicht, wie es dir geht«, sprach Samaha an Ardhi gewandt. »Aber ich glaube ihr. Warum sollte sie uns so etwas vorlügen?«
Ardhi schwieg. Ihre Zweifel waren ihr deutlich anzusehen. Sie schien abzuschätzen, wie viel Vertrauen sie in Nias Worte legen konnte, was Nia zutiefst betrübte. Dass es ausgerechnet Ardhi war, die Nias Worten misstraute, war nur schwer zu ertragen. Doch schließlich schien die Löwin nachzugeben.
»Wenn es wirklich wahr ist, sollten wir keine Zeit verlieren«, sprach Ardhi ernst.
»Sehr richtig«, bekräftigte Samaha die Worte ihrer Freundin. »Wir werden die Eindringlinge abfangen, bevor sie die Schlafplätze erreichen! Ihr beide versammelt die Löwinnen.«
Samahas Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen wie diesen einen kühlen Kopf zu bewahren, beeindruckte Nia. Für sie selbst war die Bedrohung fremd und neuartig. Noch nie zuvor seit ihrer Geburt hatte eine Gruppe männlicher Löwen das Plateau betreten. Sie wünschte, Samahas Fassung würde irgendwie auf sie überspringen. Doch das tat sie nicht.
»Und du?«, fragte Nia unruhig.
Samaha verengte die Augen zu Schlitzen, ihr ganzer Körper verriet äußerste Entschlossenheit.
»Ich werde Tazamaji finden.«
Da alles Wichtige gesagt war, trennten sich die Löwinnen. Samaha hatte bereits eine Vermutung, wo sie den Alten finden würde, das sagte sie jedenfalls. Nia folgte Ardhi in die entgegengesetzte Richtung. Sie hatte große Mühe, mit ihrer Freundin Schritt zu halten. Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis sie die Jägerinnen fanden.
Sie befanden sich noch immer an jenem Ort, an dem Ardhi und Samaha sie zurückgelassen hatten, um sich auf die Suche nach Nia zu begeben. Um Zeit zu sparen, berichtete Ardhi den anderen nur kurz und knapp, was geschehen war. Dabei ließ sie aus, dass Nia es gewesen war, die die fremden Löwen erspäht hatte. Ohne Widerrede machten sich die Löwinnen auf den Weg zurück zur Heimatstätte des Rudels. Nicht wenigen von ihnen standen Furcht und Ungewissheit ins Gesicht geschrieben.
Ardhi ließ die Gruppe erst Halt machen, als sie den leichten Hang erreichten, der hinauf zu den Felsen führte, dort wo die Schlafplätze des Rudels lagen. Sie deutete den anderen Löwinnen an, zu warten, während sie Nadhari den Hang hinauf schickte, um Kimya von der Situation zu unterrichten und ihr klar zu machen, dass sie und ihre Jungen den Unterschlupf auf keinen Fall verlassen durften. Nia nutzte die Gelegenheit und ließ sich ins weiche Gras fallen. Es verstrichen einige Momente, ehe ihr Keuchen in ein ruhigeres Atmen überging. So entkräftet hatte sie sich noch nie zuvor gefühlt. Während sie sich allmählich erholte, rief sie sich immer wieder den Blick des fremden Löwen ins Gedächtnis und erschauderte. Sie betete, dass Tazamaji in der Lage sein würde, die Fremden zu vertreiben. Was andernfalls geschehen würde, konnte und wollte sie sich nicht ausmalen.
Sie war noch immer kaum in der Lage, wieder auf ihren vier Pfoten zu stehen, da kam Ardhi zu ihr herüber.
»Noch immer keine Spur von Samaha, geschweige denn von Tazamaji«, sprach sie wenig hoffnungsvoll. Rastlos suchten ihre Augen die Weiten des Plateaus ab.
Auch Nia war bewusst, dass die Fremden hinter jedem Hügel und jeder Gruppe von Bäumen und Gestrüpp lauern konnten. War es möglich, dass sie Samaha bereits abgefangen hatten? Was würden sie mit ihr tun? Und was war mit Tazamaji? Würde er ihr zu Hilfe kommen?
»Meinst du, ihnen ist etwas zugestoßen?«, fragte Nia unsicher.
Ardhi antwortete nicht.
Was auch immer Nia in diesem Augenblick für den Rudelführer empfand, ihr war bewusst, dass er der Beschützer des Rudels war. Schon immer war es seine Aufgabe gewesen, die Löwinnen und ihren Nachwuchs gegen drohende Gefahren zu verteidigen. Löwinnen waren aufgrund ihres leichteren Körperbaus die geborenen Jäger, doch wenn es zum Zweikampf kam, war ein ausgewachsener und gesunder männlicher Löwe jedem Weibchen weit überlegen. Daher blieb den Löwinnen wenig mehr, als auf Tazamajis Stärke und Geschick zu vertrauen. Ohne den Rudelführer an ihrer Seite fühlte sich Nia den Fremden ausgeliefert, schutzlos und verletzbar.
Viele weitere quälend lange Momente verstrichen und trieben die Anspannung unter den Löwinnen ins Unermessliche. Es war Nadhari, die schließlich in einiger Entfernung eine einsame Löwin entdeckte, die sich den Felsen, zwischen denen sie hockten und abwarteten, näherte. Wie schnell klar wurde, handelte es sich um Samaha.
Sie war allein.
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Savanne in der Abendkühle
FantasiaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...