Während Dhalimu die beiden Löwen betrachtete, wie sie sich Auge in Auge gegenüberstanden und belanglose Worte wechselten, verlor er Stück für Stück seine Geduld. Mit schweren Schritten näherte er sich ihnen, bereit dafür Sorge zu tragen, dass getan wurde, was getan werden musste.
»Tu es, Bruder! Töte sie! Töte sie beide! Tu es für unseren Meister Sahib!«
Die Worte erklangen wie ein unheilvolles Mantra. Nia sah, dass Angavu die Ohren gespitzt hatte und Dhalimus Anweisungen in sich aufsog. Der massige Löwe trat an seine Seite, sein Blick war über alle Maßen streng.
»Beweis uns deine Loyalität«, knurrte er und machte damit deutlich, dass er keinen weiteren Aufschub dulden würde.
Nia wagte es nicht, den Blick von Angavu abzuwenden. Verzweifelt suchte sie seine Augen nach irgendeinem Anzeichen einer Sinneswandlung ab. Gleichzeitig nahm sie wahr, dass Mavunde sich hinter ihr regte. Es schien ihm mit einiger Mühe zu gelingen, sich wieder auf seine Beine zu kämpfen.
»Niemand kann dich dazu zwingen, etwas zu tun, was du nicht für richtig hältst, Angavu«, erklang die angeschlagene aber weise Stimme des weißen Löwen. »Nicht einmal dein Bruder. Wenn du es für falsch hältst, dann musst du es nicht tun.«
Für einen Moment schloss Angavu die Augen. Die Apathie wich und wie aus dem Nichts zeichneten sich Schmerz und Reue auf seinen Zügen ab.
»Doch«, sprach er mit erschreckender Endgültigkeit. »Ich muss es tun.«
Langsam hob der Löwe die Pfote zum Schlag. Als er die Augen öffnete, um Nia zu betrachten, hatte sich sein Blick gewandelt. Mit einem Mal wirkte es, als flehe er sie an, davonzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Aber Nia rührte sich nach wie vor nicht vom Fleck. Es war nicht Angst, die sie lähmte. Sie hatte versprochen, Mavunde im seinem Kampf zu unterstützen und sie hatte nicht vor, ihr Versprechen zu brechen. Sie erwiderte seinen Blick, bereit zu akzeptieren, dass es das letzte sein würde, was sie in ihrem Leben zu Gesicht bekam. Gleichzeitig nahm sie aus dem Augenwinkel undeutlich Dhalimus hämische und siegessichere Grimasse wahr. Er hatte triumphiert. Auf ganzer Linie.
»Es tut mir Leid«, sprach Angavu.
Nia wollte etwas entgegnen, sie wollte Angavu sagen, dass es auch ihr Leid tat, dass ihnen in einer anderen Welt, unter anderen Umständen vielleicht ein besseres Ende vergönnt gewesen wäre. Dass sie nicht bereute, ihm begegnet zu sein, trotz allem was geschehen war. Doch dann fiel ihr plötzlich etwas auf.
Zu ihrer großen Verwunderung schien Angavu nicht mit ihr zu sprechen. Er sah sie an, doch seine Worte galten jemand anderem.
Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, fuhr Angavu in einer rasanten Drehung herum und seine Pfote schnellte durch die Luft. Sie traf Dhalimu mit Wucht an der Schläfe und ließ den massigen Löwen straucheln. Nur einen Herzschlag darauf stieß Angavu sich vom sandigen Boden ab. Dhalimus gesundes Auge zeigte nur Erstaunen, als die langen Reißzähne seines Bruders sich in seinen Hals bohrten. Instinktiv hob er die Pfoten. Doch es war bereits zu spät. Der plötzliche Ruck des Angriffs genügte, um Dhalimus Kehle zwischen Angavus zupackenden Kiefern zu zerquetschen. Alles ging so schnell, dass den anderen anwesenden Löwen keine Möglichkeit zur Reaktion blieb.
Dhalimus Befreiungsversuche wirkten kraftlos. Obwohl selbst ein Meister des plötzlichen, überraschenden Angriffs, hatte er diese Attacke seines eigenen Bruders nicht vorausgesehen. Sein Körper zuckte noch einige wenige Male, dann kehrte Stille ein.
Als Angavu seinen Biss lockerte, glitt der massige, leblose Leib zu Boden. In dem Moment, in dem Dhalimus Kopf auf der trockenen Erde aufschlug, wirbelte er feinen Sand auf, der sich über sein Fell legte. Sein gesundes Auge starrte in die Leere, die Verwunderung stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben.
Unter all den anwesenden Löwen wirkte Angavu selbst am erschrockensten. Er stand breitbeinig vor seinem regungslosen Bruder und starrte ungläubig auf ihn hinab. Sein Atem ging schnell und schwer, seine Zähne hatten sich vom Blut rot gefärbt. Was auch immer für Gedanken sich in diesem Augenblick in seinem Kopf Raum verschafften, sie schienen sich mit äußerster Brutalität in sein Gewissen zu krallen.
Bharid war der erste, der sich aus seiner Starre löste. Mit gefletschten Zähnen, ausgefahrenen Krallen und einem Brüllen, das gleichermaßen von Trauer wie von Wut erfüllt war, stürmte er auf Angavu zu... doch er kam nicht weit.
Mit einem Mal eilten zwei Löwinnen aus dem nahen, hochgewachsenen Gras herbei und stellten sich ihm in den Weg. Imani und Samaha waren bis zu diesem Augenblick von den anderen Löwen unbemerkt geblieben. Fauchend erstickten sie Bharids Angriff und trieben den irritierten Angreifer zurück. Als der Löwe bemerkte, dass er zahlenmäßig weit unterlegen war, zog er sich zurück, jedoch nicht ohne Nia zuvor einen Blick zuzuwerfen, der ihr trotz der Hitze das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war nicht weniger als ein Versprechen: unsere nächste Begegnung wirst du nicht überleben.
Imani und die nach ihrem kurzen Sprint nun wieder auf drei Pfoten humpelnde Samaha hatten vor, den sich zurückziehenden Löwen zu verfolgen. Als sie jedoch Mavundes Stimme vernahmen, hielten sie inne.
»Lasst ihn gehen«, sprach der Weiße und sah seinem Widersacher hinterher, der sich in Richtung der Ebenen entfernte. »Ein Toter ist mehr als genug für einen Tag.«
Obwohl Mavunde für die beiden Löwinnen ein Fremder war, schienen sie die Vernunft in seinen Worten zu erkennen. Trotzdem ließen sie Bharid nicht aus den Augen, bis er hinter den Bäumen und Büschen des Plateaus verschwand.
Der weiße Löwe hatte sich in der Zwischenzeit zu dem am Boden liegenden Dhalimu begeben. Den Kopf hinabgebeugt, horchte er. Mit einem Mal wuchs in Nia die Befürchtung, Dhalimu könnte seinen Tod nur vorgetäuscht haben. Vor ihrem geistigen Auge sah sie bereits, wie der massige Löwe aufsprang und seine Zähne in Mavundes Hals grub. Doch ihre Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Dhalimu blieb regungslos. Ein ungewöhnlich langer Moment verstrich, ehe Mavunde den Kopf wieder hob.
»Er ist tot«, bestätigte er, was allen bereits klar gewesen war. Dabei entbehrte sich seine Stimme jeder Form von Triumph oder gar Genugtuung. Er wandte sich an Angavu und sein Blick wurde noch ernster.
Angavu war von der Leiche seines Bruders zurückgetreten. Mavundes Blick hielt er nicht lange stand. Für einen kurzen Moment sah er Nia noch einmal in die Augen, schweigend. Sie sah Reue in seinem Blick. Von Hass fehlte jedoch jede Spur.
Noch bevor Nia etwas erwidern konnte, wandte der Löwe sich ab und floh, seinem Bruder mit schnellen Schritten folgend. Sie sah ihm hinterher; um ihn zu rufen, fehlte ihr der Mut. Stattdessen flüsterte sie seinen Namen so leise, dass niemand außer ihr selbst es hören konnte.
»Angavu...«
Er wandte sich nicht mehr zu ihr um.
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Savanne in der Abendkühle
FantastikDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...