Die Jägerin und der Alte

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Noch ehe Samaha damit begonnen hatte, die Löwinnen für die Jagd zu versammeln, hatte sie sich einer anderen Aufgabe gewidmet. In den späten Mittagsstunden, als die Sonne allmählich an Stärke eingebüßt hatte, war sie dem plattgetretenen Pfad gefolgt, der weg von der Sammlung aufragender Felsen, die dem Rudel um diese Zeit des Tages reichlich Schatten spendeten, und hinaus auf das Plateau führte.

Das Plateau war eine Hochebene am äußersten Rand des Savannenlandes, beinahe vollständig eingerahmt von den aufragenden Ausläufern des Vorgebirges jener Berge, die die Löwen als »Milima Kubwa« bezeichneten, die großen Berge. Nur nach Süden und Südwesten hin flachte das Land ab und ging über in die weiten Ebenen, die so typisch waren für die Trockensavanne. Zur Regenzeit lief das Wasser in breiten Bächen und Flüssen aus den Hochebenen hinab und speiste das ansonsten trockene Land. Hier auf dem Plateau war der Boden fruchtbarer und das Gras grüner. Das lockte zahlreiche Tiere an, von der kleinsten Gazelle bis zur größten Giraffe, mehr als genug Beutetiere, um ein Rudel hungriger Jäger zu versorgen. Sofern die Jäger im Stande waren, ihre Beute zu Fall zu bringen.

Samaha war nicht lange unterwegs, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Im Halbschatten einer jungen Schwarzdorn-Akazie, die hier im Hochland nur selten wuchsen, lag er und schlief. Die Blätter und Zweige der Akazie warfen wirre, sich ständig ändernde Muster auf seine massige Flanke. Sein Atem ging unregelmäßig und von Zeit zu Zeit zuckten seine Lefzen hoch, als würde er im Traum einem Rivalen gegenüber energisch seine vergilbten Reißzähne präsentieren.

Die Löwin ließ sich in respektvollem Abstand nieder und verneigte sich flüchtig, da es Brauch war. Während sie auf eine Reaktion wartete, begann sie damit, den in die Jahre gekommenen Rudelführer näher zu betrachten. Es war beinahe erschreckend, wie sehr man ihm sein Alter ansah. Sein Fell schien von Tag zu Tag blasser und grauer zu werden, besonders im Hals- und Nackenbereich. Seine früher so imposant wirkende Mähne war dünn und strohig geworden und auf seiner Schnauze zeichneten sich zahlreiche Altersflecken ab. Hinzu kam der markante Geruch, den die Löwin inzwischen gut kannte.

Als abzusehen war, dass Tazamaji nicht so schnell von alleine erwachen würde, begann Samaha damit, penetrant mit einer ihrer Vorderpfoten über den Boden zu schaben, wobei sie ein leichtes Räuspern erklingen ließ. Das zeigte Wirkung. Tazamaji regte sich, blinzelte ein paar Mal und schüttelte den Kopf, um zur Besinnung zu kommen, wobei die Strähnen seiner kargen Mähne wild durch-einander fielen. Er bemerkte die Löwin vor sich und lächelte sanft.

»Samaha, mein Kind. Was hast du mir zu sagen?«

Samaha konnte es nicht leiden, wenn er sie als sein Kind bezeichnete. Es strafte ihrer Stellung im Rudel Lügen. Denn obwohl sie nicht die Rudelälteste war, tat sie doch vieles, was sie dieser Position nahe brachte. Für viele, insbesondere der jüngeren Löwinnen, war sie Vorbild und Inspiration, weshalb sie sie für gewöhnlich mit großem Respekt behandelten.

Bei Tazamaji war das natürlich etwas anderes. Als Rudelführer stand er über allen, war niemandem Rechenschaft schuldig und keine der Löwinnen hätte sich auch nur im Traum einfallen lassen, ihm etwas vorzuwerfen, nicht einmal Samaha. Daher schluckte sie ihren Missmut hinunter und begann ohne Murren zu berichten.

»Der Sturm hat die Herden aufgescheucht und die Beutetiere quer über das Plateau verteilt«, sprach sie. »Die Chancen stehen gut, dass sich das eine oder andere verlorene Tier aufspüren lässt. Imani hält es deshalb für ratsam, nicht erst die Dämmerung abzuwarten.«

Mit sichtlicher Mühe richtete sich der Alte auf und atmete schwer und tief durch, während er sich Samahas Worte durch den Kopf gehen zu lassen schien.

»Und du?«, fragte er »Was hältst du von ihrem Einwand?«

»Ich stimme ihr zu«, entgegnete Samaha knapp. Ihre Beziehung zu Imani mochte nicht die beste sein, doch in diesem Fall kam sie nicht drum herum, ihren Worten ein gewisses Maß an Vernunft beizumessen.

Tazamaji nickte verständnisvoll, während er aus dem Schatten hervortrat. »Ja, ich denke, ihr habt recht. Dem Jagdglück der letzten Zeit nach zu urteilen, sollten wir jeden Vorteil nutzen, der sich uns bietet.«

Dieses Mal konnte Samaha ein Schnauben nicht zurückhalten. Es machte nicht den Eindruck, als würde Tazamaji ihr direkte Vorwürfe machen wollen. Nichtsdestotrotz stand es außer Zweifel, dass sie die Hauptverantwortliche war, wenn es um Jagdangelegenheiten ging, weshalb sie jegliche Kritik in dieser Hinsicht sehr persönlich nahm, insbesondere weil sie fest davon überzeugt war, dass sie selbst keine Schuld traf. Sie hatte getan, was sie konnte, aber die meisten Löwinnen des Rudels waren zu unerfahren oder aber zu stur, um die Disziplin während der Jagd aufrecht zu erhalten.

Tazamaji schien zu ahnen, was die Löwin dachte. Für gewöhnlich war es nicht seine Art, sich in die Angelegenheiten der Löwinnen einzumischen. Jedenfalls nicht, solange er regelmäßig seinen Teil der Beute einstreichen konnte. Und genau das tat er auch. Von allen Rudelmitgliedern war er der letzte, der sich um mangelnden Jagderfolg zu sorgen hatte, denn er hatte das Recht, sich nach eigenem Ermessen an der Beute zu bedienen. Was dann noch übrig blieb, teilten die Löwinnen unter sich auf. So war es Tradition.

»Diese Nia, wie stellt sie sich bei der Jagd an?«, wollte der Rudelführer wissen und Samaha kam nicht umhin, zu bemerken, dass ein entfernter Schimmer über seine fahlen Augen huschte, während er einen flüchtigen Blick über die Savanne warf. Sie wusste, dass Nia die einzige Löwin der jungen Generation war, mit der der Alte noch keinen engeren Kontakt aufgenommen hatte. Vor ein paar Tagen hatte Samaha die beiden gesehen, wie sie nebeneinander am Fluss gestanden hatten. Nia war dem Rudelführer sichtbar ausgewichen, hatte nur knapp auf seine Fragen geantwortet, ein paar Schluck Wasser genommen und sich daraufhin schnellen Schrittes zurück zu den Schlafplätzen begeben. Ganz offensichtlich schien der alte Löwe sie nicht sonderlich anzuziehen.

»Nun, wenn du es wirklich wissen willst: Sie ist eine Kata-strophe. Einige der anderen sind der Meinung, wir sollten sie von der Jagd ausschließen, dann hätten wir mehr Erfolg. Manchmal frage auch ich mich, ob sie nicht eher den Beutetieren hilft als uns.«

Samaha wagte nicht abzuschätzen, was dem Alten durch den Kopf ging, während er sich gemächlich streckte und seine geschundenen Knochen knacken ließ. Vielleicht wägte er ab, ob eine Löwin wie Nia die Mühe wirklich wert war. Irgendetwas sagte Samaha jedoch, dass es gerade Nias zögerliches Verhalten und ihre Ausweichversuche waren, die Tazamajis männlichen Jagdinstinkt auf seine alten Tage noch einmal geweckt hatten. Möglicherweise hatte er unbewusst auf eine Herausforderung gewartet. So oder so schien der Gedanke an sie ihn bei Laune zu halten, jedenfalls für einige Augenblicke. Denn kaum hatte er seine obligatorischen Dehn-übungen hinter sich gebracht, blickte er grimmiger drein als ein erbostes Nashorn.

»Wo ist bloß die Zeit hin, Samaha? Gestern noch bin ich wie ein junger Gepard durch die Savanne gejagt und heute kann ich kaum mein eigenes Gewicht auf den Beinen halten. Was hat Mutter Natur mit uns angestellt?«

»Sie hält nichts davon, es uns einfach zu machen«, entgegnete Samaha, die sich an derlei Ausbrüche von Selbstmitleid von Tazamajis Seite gewöhnt hatte. »Das war noch nie ihr Anliegen. Wir beide wissen das.«

»Wir beide wissen es«, wiederholte der Alte abschließend und setzte sich in Bewegung, dem Pfad folgend, der hinaus auf das Plateau führte. Dort verlor er sich in einem Meer aus grünem und bräunlichem Gras, das sich rhythmisch im Wind wiegte.

Samaha sah ihm hinterher, wie er sich schwerfällig voran-schleppte, den Kopf tief gesenkt. Mit jedem Schritt wippte sein hängender Bauch von einer Seite auf die andere. Sie konnte es Nia nicht verübeln, dass diese nicht viel für Tazamaji übrig hatte. Wenn sie ehrlich war, musste Samaha sich eingestehen, dass es ihr nicht anders ging. Aber das war eine ganz andere Geschichte.

Da sie ihre Pflicht, den Rudelführer über die anstehende Jagd zu informieren, als erfüllt ansehen konnte, machte Samaha sich auf den Weg zurück zu den Schlafplätzen, um die anderen Löwinnen zusammenzutrommeln. Dabei gingen ihr die Worte des Alten wieder und wieder durch den Kopf, ohne dass sie wirklich über sie nachzudenken begann. Was hat Mutter Natur mit uns getan?

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt