Es waren die Fliegen, die Nia weckten. Deutlich vernahm die Löwin das vertraute Surren. Wieder und wieder zogen die lästigen Insekten Kreise unmittelbar über ihrem Kopf und ließen sich in regelmäßigen Abständen auf ihrer Schnauze oder ihren Hals entlang nieder. Obwohl die Löwin sich schwach und ausgezehrt fühlte und jede Bewegung ein ungewöhnlich hohes Maß an Kraft kostete, versuchte sie reflexartig die Fliegen zu verscheuchen, indem sie ihre Ohren und Lefzen zucken ließ. Ihre Reaktionen sorgten jedoch nur für eine vorübergehende Befreiung, denn die widerwärtigen Geschöpfe kehrten immer wieder zu ihr zurück. Schon bald gab Nia auf. Fliegen... sie waren die wahren Herrscher der Savanne.
Als Nia nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich unter Anstrengung die Augen öffnete, blendete sie die Sonne, die inzwischen tief stand. Sie blinzelte schwach und hob mühevoll ihren schmerzenden Kopf vom felsigen Boden an, um sich umzusehen. Wie sie mit vernebeltem Blick feststellte, lag sie unterhalb eines mehrere Schritt hohen Felsvorsprungs, der sich in einer flachen Windung über sie wölbte und ihr den Blick auf den Himmel über ihrem Kopf nahm. Bei dem Anblick kehrten die ersten Erinnerungen zurück.
Nia erinnerte sich daran, dass sie an diesem Ort Zuflucht gesucht hatte, vor dem Fremden, der sie den Bergpfad hinauf verfolgt hatte. Noch immer konnte sie die panische Angst fühlen, die sie verspürt hatte, als sie um ihr Leben gelaufen war. Das Dröhnen in ihrem Kopf war aller Wahrscheinlichkeit nach eine Nachwirkung ihres ungeschickten Sturzes, an den sie sich nur bruchstückhaft erinnern konnte. Es erschwerte Nia das Denken und sorgte für immer wiederkehrende Anflüge von Schwindel. Hinzu kam, dass Nias Kehle sich so ausgedörrt und rau anfühlte wie ein leeres Flussbett während der Trockenzeit.
Zu ihrer Verwunderung stieg der Löwin der Geruch frisch erlegter Beute in die Nase und für einen Moment gab sie sich der Illusion hin, dass sie sich noch immer bei ihrem Rudel in der Nähe der Schlafplätze befand. Jeden Augenblick würde Ardhi ihr mitteilen, dass ihre Jagd erfolgreich verlaufen war, dass es genug für alle gab und Nia sich sattfressen konnte, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte. Dann traf die Realität sie wie ein Blitzschlag.
Ardhi. Ein stechender Schmerz durchfuhr Nia, als sie sich mit einem Mal an das erinnerte, was sie hatte mitansehen müssen. Der Angriff des Fremden. Ardhis regungsloser Körper. Ihre leeren Augen.
Bei diesen Erinnerungen zog sich Nias Magen krampfartig zusammen. Übelkeit überkam sie und sie begann schwerfällig zu keuchen und nach Luft zu schnappen. Es konnte einfach nicht wahr sein. Sie musste es geträumt haben. Solange Nia denken konnte, war Ardhi immer für sie da gewesen, in jeder noch so verzweifelten Situation hatte sie Nia zur Seite gestanden und ihr den Weg gezeigt. Und jetzt sollte sie einfach fort sein? Nia musste zurück, den Bergpfad hinab, um nach ihr zu sehen. Sie musste ihr helfen.
Es geschah nicht von einem Moment auf den nächsten, dass die Gewissheit Nia einholte, es war vielmehr ein unbarmherziger Prozess, den die Löwin durchlitt. Zunächst versuchte sie noch, sich auf ihre Beine hochzustemmen, um loszueilen und Ardhi zu Hilfe zu kommen. Dann, einige gnadenlose Augenblicke der Verwirrung später, sank die Löwin wieder zu Boden und biss die Zähne vor Schmerz zusammen. Tränen liefen ihre Wange hinab. Sie verstand, dass sie nichts mehr tun konnte. Ardhi, Nias einzige Freundin auf dieser Welt, war tot, ermordet von einem Fremden. Der Gedanke schnürte Nia die Kehle zu.
Wie hatte es so weit kommen können? War es ihre Schuld? Sie hatte den Schrecken, der sich mit wehender Mähne und in der Sonne aufblitzenden Klauen genähert hatte, mit eigenen Augen gesehen. Den schwarzen Abgrund, die Warnung, die ihr anvertraut worden war, hatte sie erkannt und gedeutet. Aber es war ihr nicht gelungen, ihre Schwestern zur Flucht zu bewegen. Sie hatte versagt.
Selbst als der Fremde Ardhi eingeholt und seine Zähne in ihren Leib geschlagen hatte, war Nia untätig geblieben, starr vor Entsetzen. Sie hatte einfach nur zugesehen, während ihr Leben und alles, was einen Wert für sie gehabt hatte, in der gähnenden Leere verschwunden war.
Nia war klar, dass sie den letzten Blick ihrer Freundin niemals vergessen würde. Selbst im Moment ihres Todes hatte die stets gutmütige und aufopferungsvolle Ardhi an nichts anderes gedacht, als daran, ihre Nichte in Sicherheit zu wissen. Vermutlich hätte sie sich dem Fremden sogar zum Fraß vorgeworfen, wenn es die einzige Möglichkeit gewesen wäre, Nias Leben zu schützen. Und Nia hatte im Gegenzug nicht einmal eine Pfote gerührt, um ihr zu helfen.
Eine ganze Weile lag Nia auf dem steinigen Boden, während der Schmerz sie in Wellen überkam. Die Erkenntnis, allein zu sein, traf sie hart. Obwohl sie ihr Leben lang eine Einzelgängerin gewesen war, hatte sie in Ardhi doch immer jemanden gefunden, der sie ihre Sorgen und Ängste hatte anvertrauen können. Nun fühlte sie sich einsam und verloren und ihre bloße Existenz erschien Nia mit einem Mal wertloser als je zuvor.
Während sie stumm und mit geschlossenen Augen auf ihr trauerndes Herz lauschte, sog Nia die frische Höhenluft ein. Dabei fiel ihr auf, dass der Geruch, den sie zuvor bemerkt hatte, keineswegs eine Einbildung gewesen war. Er war real und ausgesprochen prägnant. Unter einiger Kraftanstrengung gelang es Nia, sich auf ihre Vorderpfoten zu stemmen und sich, halb aufgerichtet, herumzuwinden. Dann, als sie den Blick hob, erstarrte sie.
Unmittelbar vor ihr, nicht einmal drei Schritte von der Stelle entfernt, an der sich bis eben noch ihr Kopf befunden hatte, lag der leblose Körper einer Gazelle. Seine leeren, schwarzen Augen starrten Nia an und ließen sie erschaudern. Es war, als ob sie noch einmal einen Blick hinab in den endlosen Schlund warf, der ihre Vision dominiert hatte. In weiter Ferne, gefangen in der finsteren und geisterhaften Welt der fremden Augen, umringt von blassem Nebeln, sah sie sich selbst, ihr eigenes Spiegelbild.
Es verlangte Nia ein gehöriges Maß an Selbstbeherrschung ab, um sich vom Blick der toten Gazelle loszureißen. Als der Schreck aus ihren Gliedern gefahren war und sie die Besinnung zurückerlangt hatte, wagte sie noch einmal einen Blick.
Der Gazellenkadaver war offenbar sorgfältig auf dem Stein- und Sandboden ausgebreitet worden. Um ihn herum schwirrten diverse Fliegen, vermutlich eben jene Insekten, die Nia aus ihrem tiefen Schlaf geweckt haben mussten. Der Anblick eines erlegten Beutetieres hätte in Nia eigentlich Appetit wecken müssen, doch stattdessen verkrampfte sich ihr Magen nur umso mehr, was dazu führte, dass die Löwin ein Würgen unterdrücken musste.
Nia war sich todsicher, dass der Körper hier noch nicht gelegen hatte, als ihre Flucht sie an diesen Ort gebracht hatte. Dies konnte nur bedeuten, dass jemand den Kadaver hierher gebracht hatte, während Nia bewusstlos gewesen war. Der bloße Gedanke jagte Nia einen kalten Schauer über den Rücken.
Ihren Mut zusammennehmend trat Nia vorsichtig an das tote Tier heran und betrachtete es eingehender. Dabei fielen ihr die Bissspuren an Hals und Nacken auf, die auf das Werk eines geübten Jägers schließen ließen. Nia dachte zurück an die blassen Umrisse des Löwen, den sie erblickt hatte, kurz bevor ihre Kräfte sie verlassen und die Schwärze sie eingehüllt hatte. Das Bild, das sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte, war verschwommen und stark vom Schwindel gezeichnet, aber sie war sich sicher, dass sie den Fremden, der ihr erschienen war, noch nie zuvor gesehen hatte. Es konnte keiner der beiden Mörder gewesen sein, die Ardhi und Samaha getötet hatten, so viel stand fest. Denn ansonsten wäre auch Nia nun nicht mehr am Leben.
Aber wer war es dann? Konnte es wirklich sein? Hatte Nia ihn mit eigenen Augen gesehen, den Löwen des Berges?
Nia versuchte sich auszumalen, was dies bedeuten mochte. Wenn er tatsächlich erschienen war, um sie zu retten und in seine Obhut zu nehmen, wo war er dann jetzt? Was tat er in diesem Augenblick?
So sehr die Löwin sich auch umsah, überall war nur dieselbe karge Landschaft auszumachen. Das Gras war hier in dem von Hügeln und kleineren Felsvorsprüngen und Klippen dominierten Gelände sichtbar kürzer und karger als auf dem Plateau. Nur hin und wieder wucherte zwischen den unzähligen Steinen ein Dornengestrüpp vor sich hin. Ihre Flucht schien Nia weit in das Vorgebirge hineingetragen zu haben, sie konnte lediglich am Sonnenstand erahnen, in welche Richtung ihre Heimat liegen musste. Es wunderte sie nicht, dass die anderen Löwinnen diesen Ort mieden. Wer hier überleben wollte, durfte keine hohen Ansprüche haben.
Als Nia unter dem Felsvorsprung hervortreten wollte, vorbei an dem Gazellenkadaver, zuckte sie plötzlich zusammen. Ihr linkes Vorderbein gab ohne Vorwarnung nach und die Löwin landete unsanft mit der Schulter voran auf dem harten Boden. Schmerz durchfuhr sie und der Schwindel kehrte schlagartig zurück. Irritiert schüttelte sie sich und biss die Zähne zusammen. Was war bloß los mit? Sie hatte doch nur...
»Vorsicht, Kleine. So ein Schlag gegen den Kopf kann einen ganz schön aus der Fassung bringen.«
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...