Sehnsucht - Teil 2

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Die Bäume, die Nia passierte, warfen lange Schatten. Es waren die letzten Schatten des Tages. Hier am Fluss standen die Akazien dichter beisammen als auf dem nördlichen Teil des Plateaus, wo die Löwinnen für gewöhnlich jagten.

In unregelmäßigen Abständen hielt Nia an, sah sich um und begann Angavus Namen zu rufen. Daraufhin wartete sie jeweils einige Augenblicke und lauschte. Sie hoffte, dass der Wind ihr eine Antwort zutragen würde... doch nichts geschah. Von Angavu fehlte jede Spur.

Vermutlich hatte er das Plateau längst verlassen und sich auf die weiten Ebenen begeben. Es war dumm von Nia anzunehmen, dass er hier irgendwo auf sie wartete. Was hätte er für einen Grund gehabt?

Die Löwin seufzte resigniert und ließ sich zwischen Bäumen und Büschen nahe des Flussufers nieder. Dort beobachtete sie, wie der Fluss immer mehr Wasser aus den Bergen hinaus auf die Ebenen brachte. Ein nie endender Strom. Ein Stück weit südlich von hier gab es einen kleinen Wasserfall. Ein paar Mal hatte es Nia dorthin verschlagen, anfangs in der Regel zusammen mit ihrer Mutter. Einmal hatten sie dabei sogar einen Regenbogen gesehen, der sich im aufsteigenden Sprühnebel gebildet hatte, dort wo Wasser auf Wasser traf. Nia hatte ihn als wunderschön in Erinnerung, mit all seinen Farben. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass der Regenbogen ein Zeichen dafür war, dass der Löwe des Berges ihnen eine besonders lange und reiche Regenzeit bescherte. Damals hatte Nia ihr geglaubt, heute war sie sich dessen nicht mehr so sicher.

In den letzten Tagen war ihr Glaube zunehmend von Zweifeln zerrissen worden. Zu viel war geschehen, was sie sich nicht hatte erklären können. Es war, als ob eine ganze Welt vor ihren Augen zusammen gebrochen wäre, daran hatte auch der Sieg über die Brüder nichts geändert. Nia war froh, dass Samaha, Kimya und die anderen jetzt wieder in Frieden würden leben können, dass sie die Möglichkeit hatten, die Jungen großzuziehen, ohne in jedem Augenblick um ihr Leben fürchten zu müssen. Das war ein beruhigender Gedanke.

Nia selbst spürte jedoch, dass ihr eine deutliche Herausforderung bevorstand, wenn sie ihren Platz im Rudel finden wollte. Sie war nicht mehr die selbe Löwin, die sie gewesen war, als sie das Rudel auf der Flucht vor den Brüdern verlassen hatte. Nein, sie hatte sich verändert. Ob zum Guten oder zum Schlechten wagte sie jedoch nicht zu beurteilen. Sie wusste lediglich, dass das junge Mädchen, das Regenwürmer beobachtet und sich den Anweisungen ihrer Tante widersetzt hatte, nicht mehr existierte. Dieser Teil von Nia schien für immer im Nebel der Vergangenheit verloren. Schuld daran waren die Brüder, allen voran Angavu.

Frustriert schob Nia ihre Schnauze in die von der Tageshitze noch immer warme Erde. Hätte sie sich doch wenigstens von ihm verabschieden können.

Einige Zeit verging und die Schatten der Bäume lösten sich auf und verschwanden. Das Glühen im Westen erstarb und die Kühle der Nacht legte sich über das Land. Das stetige, leise Rauschen des Flusses begann Nia allmählich einzulullen und sie gab ihrer Erschöpfung nach und schloss die Augen.

Plötzlich drang etwas an ihr Ohr. Schritte. Jemand bahnte sich langsam und vorsichtig einen Pfad durch das Gestrüpp. Sofort war Nia wieder wach, die Ohren gespitzt. Hoffnung keimte mit einem Mal in ihr auf. Hatte Angavu ihre Rufe gehört? War er zu ihr gekommen?

Die Antwort kam in Form eines ohrenbetäubenden und aggressiven Brüllens. Der Löwe, der sich Nia genähert hatte, sprang aus dem Gestrüpp hervor und stürzte sich auf die vor Schreck wie gelähmte Löwin. Lange, spitzte Reißzähne und messerscharfe Krallen blitzten auf. Erst im allerletzten Augenblick gelang es Nia, sich aus ihrer Starre zu lösen. Noch halb im Liegen stieß sie sich zur Seite weg, in Richtung Flussufer. Dadurch gelang es ihr, der Wucht des Angriffes zu entgehen. Doch noch bevor sie sich aufrappeln konnte, um zu fliehen, wurde sie ebenso plötzlich wie unsanft gestoppt. Der Angreifer hatte Nias Schwanzquaste zu packen bekommen.

Nur einen Atemzug später stürzte er sich erneut auf die Löwin, die nun wie festgenagelt war. Nia spürte Druck auf ihrem Rücken lasten und das Stechen scharfer Krallen, die sich in ihr Vorderbein bohrten. Dann erklang mit einem Mal wildes Keifen.

»Dreckige Schlampe!«, spie Bharid aus. Sein Speichel verteilte sich über den Sandboden. »Ich würde dir die Kehle rausreißen, aber du hast einen schnellen Tod nicht verdient.«

Obwohl der Löwe über ihr war und sie fest in seinem Griff hielt, war Nia nicht gewillt, sich kampflos zu ergeben.

»Lass mich los!« Sie wand sich ruckartig und versuchte immer wieder, sich freizureißen. Doch mit jeder Bewegung verstärkte Bharid seinen Griff nur, sodass der Schmerz Nia Tränen in die Augen trieb. Als sie in ihrem verzweifelten Kampf einen kurzen Blick auf den Löwen erhaschte, erschrak sie. Er war von seinem Kampf gegen Mavunde deutlich gezeichnet. Doch was sich am meisten verändert hatte, war sein Blick. Bharids Augen spiegelten den blanken Wahnsinn wieder. Jeder Rest von Vernunft hatte sein Gesicht verlassen. Und er war drauf und dran Nia in Stücke zu reißen.

Noch bevor Bharid zur Tat schreiten konnte, drang plötzlich eine andere Stimme zu ihnen heran. Sie ließ den irren Löwen augenblicklich innehalten, wobei sein Griff sich jedoch keineswegs lockerte, im Gegenteil, die Worte schienen seine Anspannung nur noch weiter zu steigern.

»Lass sie gehen, Bharid. Wenn du sie tötest, wird das niemandem von uns helfen.«

Nias Herz machte einen Sprung. Das war Angavus Stimme. Noch immer zu Boden gedrückt, wandte die Löwin den Kopf herum.

Tatsächlich... dort am anderen Flussufer stand er, lediglich der etwa ein Dutzend Schritt breite Strom trennte ihn von ihr und ihrem wild schnaufenden Peiniger.

»Du!«, keifte Bharid, seiner ganzen Abneigung Ausdruck verleihend. »Du wagst es, mir in die Augen zu sehen? Brudermörder! Du solltest dich im Fluss ersaufen und deinem mickrigen Dasein ein Ende bereiten!«

»Ich bitte dich, Bharid, komm zur Vernunft. Wenn du mich verurteilen möchtest für das, was ich getan habe, dann tu es. Aber hör auf, die Löwinnen zu terrorisieren.«

Bharid antwortete mit einem tiefen, kehligen Brüllen. »Ich wechsle keine Worte mit einem verlogenen Verräter wie dir. Geh mir aus den Augen!«

Angavu versuchte sichtbar ruhig zu bleiben, um seinen Gegenüber nicht noch weiter zu reizen. Doch Bharids Körpersprache verriet deutlich, dass diese Auseinandersetzung kein friedliches Ende nehmen würde.

»Ich komme jetzt zu euch herüber und dann wirst du Nia unbehelligt ziehen lassen«, sprach Angavu. »Hast du mich verstanden?«

Dann wandte er sich direkt an Nia. »Nia, bleib wo du bist.«

Nia nickte nur knapp. Mit dem Gewicht eines ausgewachsenen männlichen Löwen auf den Schultern, der sie fest in seinem Griff hielt, würde sie sich ohnehin nicht weit bewegen können.

Unter Bharids lautem und aggressivem Knurren näherte sich Angavu ihnen. Vorsichtig stieg er inmitten des Schilfs in das Flussbecken hinab. Die Strömung war zwar gut sichtbar, jedoch nicht stark genug, um den Löwen mit sich zu reißen. Nur an der tiefsten Stelle musste Angavu mit seinen Pfoten nachhelfen, um nicht unterzugehen. Als er mit nassem Fell aus dem Fluss heraustrat und die Böschung hinaufzusteigen begann, senkte Bharid seinen Vorderkörper, bereit zum Angriff.

»Es hat keinen Sinn, Bharid«, sprach Angavu weiter beschwichtigend, aber gleichzeitig mit Druck in seinem Unterton. »Was geschehen ist, ist geschehen. Daran können wir nun nichts mehr ändern.«

Bharid stieß ein weiteres hasserfülltes Brüllen aus. Dann, plötzlich, lockerte er seinen Griff und ließ von Nia ab, jedoch nur, um auf direktem Weg auf Angavu zuzustürmen. Nia, die durch den plötzlichen Ruck in den Sand geworfen wurde, hob rasch den Kopf, um das Geschehen zu beobachten. Sie sah, dass Angavu bereit war, seinem Angreifer sein ganzes Gewicht entgegenzuwerfen. Doch dazu erhielt er keine Gelegenheit.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt