»Ich verstehe es nicht«, gab Nia fassungslos und mit heiserer Kehle zu, nicht in der Lage, ihren Blick gänzlich von der grauenvollen Szenerie abzuwenden.
Mavunde nickte verständnisvoll. Auch ihn schien der Anblick nicht völlig kalt zu lassen.
»Ich erkläre es dir«, sprach er. »Aber nicht hier. Die Toten sollen ihren Frieden finden.«
Mit diesen Worten wandte der weiße Löwe sich von Nia ab und kletterte den Höhlengang hinauf. Nia warf noch einen letzten Blick auf das, was einst ein ganzer Hyänenclan gewesen war. Dann überließ sie die verwesenden Kadaver ihrem Schicksal und folgte Mavunde schweigend.
Nur wenige Schritte vor der Höhle hielt der weiße Löwe an und wandte sich Nia zu. Als er ihren fragenden Blick sah, begann er zu erklären.
»Es war der Geruch, der mich hierher geführt hat. Ich wollte wissen, wie ernst ich Angavus Warnung vor den Hyänen nehmen musste. Vielleicht war es leichtsinnig von mir, alleine zu gehen und euch ungeschützt zurückzulassen, aber ich wollte bei meiner Suche ungestört bleiben. Außerdem sagte mir mein Instinkt, dass die Gefahr nicht so groß war, wie Angavu uns weiszumachen versucht hat. Wie du siehst, lag ich richtig. Diese Hyänen werden nie wieder einen Löwen angreifen. Falls sie es überhaupt jemals getan haben.«
Der unterschwellige Tonfall in Mavundes Worten ließ Nia aufhorchen. Sie fragte sich, warum er ausgerechnet sie hierher gebracht hatte. Warum hatte er die Höhle nicht seinen beiden Gefährten gezeigt? Warum hielt er seinen Fund vor ihnen geheim?
»Weißt du, wer sie umgebracht hat?«, fragte Nia vorsichtig, nicht sicher, ob sie die Antwort wirklich wissen wollte. Wer oder was auch immer in der Lage war, ein solches Massaker anzurichten, war eine ernsthafte Bedrohung für alles und jeden in seiner Umgebung.
Mavunde antwortete nicht direkt. Es hatte den Anschein, als ob ihn etwas davon abhielt, voreilige Schlüsse zu ziehen. Schließlich ließ er Nia an seinen Gedanken teilhaben.
»Obwohl ich vermute, dass der kühle Schatten der Höhle den Verwesungsprozess verlangsamt hat, ist er bereits deutlich fortgeschritten«, sprach er. »Das bringt mich zu dem Schluss, dass die Tiere hier bereits länger als ein paar Tage liegen. Nach allem, was ich weiß, würde ich schätzen, der Zeitpunkt ihres Todes liegt in etwa dreißig bis fünfzig Tage zurück.«
»Das kann nicht sein«, erwiderte Nia erstaunt. »Diese Hyänen haben mich am Bach verfolgt, das ist kaum mehr als zehn Tage her. Wäre Angavu nicht gewesen, wäre ich ihnen wohl zum Opfer gefallen.«
Mavunde stand der Zweifel deutlich ins Gesicht geschrieben. Aber seiner Schätzung des Todeszeitpunktes schien er sich sehr sicher zu sein.
»Keiner dieser Kadaver ist jünger als zwanzig Tage, das kann ich mit voller Sicherheit sagen. Es ist aber nicht völlig auszuschließen, dass die Hyänen, die dich verfolgt haben, nicht unter diesen Toten zu finden sind. Allerdings sieht das hier für mich nach einem systematischen Angriff aus.« Der weiße Löwe deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Höhle. »Es existiert nur ein einziger Weg, der aus diesem Unterschlupf hinaus führt. Jemand hat abgewartet, bis der gesamte Clan sich hier versammelt hat, um dann skrupellos zuzuschlagen. Und dass Hyänen aus einem anderen Clan sich in diesem Revier herumgetrieben haben, halte ich für unwahrscheinlich. Hast du deine Verfolger denn mit eigenen Augen gesehen?«
»Nein«, gab Nia wahrheitsgetreu zu. »Aber ich habe sie gerochen. Und Angavu hat sie gesehen, er konnte mir genau sagen, aus wie vielen Männchen und Weibchen die Gruppe bestand.«
»Nun, du hast vermutlich den zu diesem Zeitpunkt schon intensiven Verwesungsgeruch mit dem Geruch der Hyänen selbst verwechselt. So ist es auch mir ergangen.«
»Aber Angavu hat sie gesehen«, protestierte Nia. »Warum sollte er lügen?«
Während ihre Worte noch verhallten, sah die Löwin Mavunde an. Sein Blick verriet ihr bereits, was er dachte, noch ehe er es aussprach.
»Das ist die Frage, die mich beschäftigt«, sagte er.
Nia wusste nicht, was sie erwidern sollte. Dass Mavunde nicht viel für Angavu übrig hatte, konnte sie ihm nicht verübeln, es mochte schon allein auf Gegenseitigkeit beruhen. Aber dass der weiße Löwe ihren Freund als Lügner bezeichnete? Das war etwas anderes. Es warf mit einem Mal ein anderes Licht auf den so edel und gerecht wirkenden Mavunde.
»Du irrst dich«, sprach Nia, jedoch nicht mit der Sicherheit, die sie eigentlich für angebracht gehalten hätte im Angesicht von Mavundes Anschuldigungen.
»Das hoffe ich auch«, entgegnete der weiße Löwe und seine Miene wurde noch ernster. »Denn wenn ich mit meinen Mutmaßungen recht behalte, bringt uns dies an einen finsteren Punkt. Wir könnten Angavu nicht mehr trauen, noch ihm erlauben, weiterhin Teil unserer Gruppe zu sein.«
»Ich werde mit ihm reden«, schlug Nia vor. Mavundes Worte bereiteten ihr große Sorgen. Sie wollte unbedingt verhindern, dass Angavu von ihrer Seite wich oder dass er gar von den anderen fortgejagt werden würde.
Mavunde schien ihr Vorhaben für angebracht zu halten.
»Sei vorsichtig dabei«, mahnte er sie. »Wir wissen nicht, was seine Motive sind. Er hat gezielt versucht, uns davon abzuhalten, den Weg auf das Plateau einzuschlagen. Und es hat ihm erst recht nicht gefallen, dass wir an diesem Ort eine Rast eingelegt haben.«
»Ich bin mir sicher, dass es eine Erklärung für sein Verhalten gibt«, entgegnete Nia. Bislang hatte sie Angavus offenkundige Abneigung gegenüber den anderen als eine Form von überspitztem Misstrauen gedeutet, geboren aus der Tatsache, dass Angavu es offensichtlich nicht gewohnt war, Teil einer Gruppe zu sein. Dass er etwas im Schilde führen könnte, was Mavunde und seinen Gefährten oder gar Nia selbst in irgendeiner Form Schaden zufügen könnte, konnte und wollte sie nicht glauben.
Gerade wollte sie sich mit diesen Gedanken an Mavunde wenden, da fiel ihr plötzlich auf, dass der weiße Löwe sie nicht länger ansah. Wie eingefroren stand er vor ihr, aufrecht, den Kopf gehoben und die Ohren gespitzt. Sein Blick wanderte über die Hügel und Felsen unter dem dunklen, wolkenverhangenen Nachthimmel.
»Hörst du das auch?«, fragte er mit gesenkter Stimme.
Nia lauschte. Tatsächlich... über die Stille der Nacht hinweg drangen Stimmen zu ihr. Sie waren leise und vom Wind verzerrt, doch sie meinte unter ihnen Ajalis kräftiges Organ herauszuhören. Sie klang aufgebracht. Nia war nicht in der Lage, Worte zu erahnen, doch allein der Tonfall der Stimmen bereitete ihr Unbehagen. Etwas war in ihrer Abwesenheit geschehen.
»Wir sollten uns beeilen«, sprach Mavunde und löste sich augenblicklich aus seiner Starre. Raschen Schrittes eilte er voraus, dem Weg folgend, der sie zur Höhle geführt hatte.
Ohne zu zögern, folgte Nia ihm. Sie hatte alle Mühe, Schritt zu halten, doch die Sorge um ihre Gefährten, allen voran um Angavu, trieb sie voran.
Auf etwa halbem Weg zwischen der Höhle und dem Bach, an dem sie geruht hatten, vernahmen die beiden Löwen plötzlich einen Schrei. Furchteinflößend hallte er durch die Nacht. Nia kannte diesen Schrei, sie hatte ihn schon einmal vernommen, doch dieses Mal war er vielmehr von körperlichem als von seelischem Schmerz durchdrungen. Sie hatte wenig Zeit, über seine Ursache nachzudenken, da Mavunde das Tempo noch einmal anzog. Im nächsten Augenblick erreichten sie über die Anhöhe den Bach. Dort bot sich ihnen ein übler Anblick.
DU LIEST GERADE
Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...