Als Samaha und Imani sie fanden, lag die junge Löwin am Flussufer und beobachtete die Fische, die sich unter dem Mondlicht im Wasser tummelten. Einige von ihnen waren größer als ihre Pfote und sie trotzten der Strömung mit beeindruckender Leichtigkeit. Nia war so fasziniert, dass sie kaum bemerkte, wie die beiden älteren Löwinnen sich näherten. Samaha wirkte ausgesprochen erleichtert, die junge Löwin wohlauf vorzufinden.
»Wir hatten schon befürchtet, du wärst diesem Fremden gefolgt und wir würden dich nie wieder sehen«, erklärte sie, während sie sich gemeinsam auf den Weg zurück zu den Schlafplätzen begaben. Sie schien etwas von Nias letzter Begegnung mit Angavu zu ahnen, fragte jedoch nicht weiter nach.
Als die drei Löwinnen ihre Heimstätte erreichten, wurden sie von den anderen freudig begrüßt, insbesondere Nia. Die Tatsache, dass sie zurückgekehrt war, um dem Rudel zu helfen, hatte ihr viel Respekt eingebracht. Offenbar hatte zuvor keine der Löwinnen damit gerechnet, sie jemals wieder zu sehen. Allein die alte Shahidi schien an ihre Rückkehr geglaubt zu haben.
»Ich habe euch immer gesagt, sie kehrt irgendwann zurück«, betonte sie mehrfach. Doch Nia glaubte, dass sie eigentlich nicht von ihr selbst sprach, sondern von Nias Mutter, die Jahre vor ihr ins Gebirge gegangen und niemals zurückgekehrt war. Nia verzieh der Ältesten, sie brachte solche Dinge regelmäßig durcheinander.
Auch Ajali begrüßte Nia, wenn auch nicht sonderlich überschwänglich. Genau wie Samaha war auch sie verletzt worden und es war unklar, ob sie eines Tages wieder zu ihrer alten körperlichen Verfassung zurückkehren würde. Die Tatsache, dass Angavu es war, der ihr dies angetan hatte, machte es für Nia nicht einfacher. Sie war jedoch überzeugt davon, dass Angavu die Löwin nur angegriffen hatte, da er keinen anderen Ausweg gesehen hatte.
Als Nia direkt in Ajalis Augen sah, erkannte sie, den Verletzungen der Löwin zum Trotz, ein Gefühl der Befreiung. Es war, als ob sie mit ihrem alten Leben und dem damit verbundenen Durst nach Rache abgeschlossen hatte und nun einem neuen Sonnenaufgang entgegensah.
Über alles, was sie selbst und Angavu anging, schwieg Nia gegenüber den anderen Löwinnen, insbesondere was ihr letztes Gespräch am Flussufer anging. Sie hatte nicht vor, seine Taten gegenüber den anderen zu rechtfertigen. Sie hätte nicht einmal gewusst wie. Es war besser, wenn die anderen ihn als einen der Brüder im Gedächtnis behielten.
Ihr selbst war jedoch bewusst, dass Angavu der Grund war, warum sie alle noch am Leben waren. Seine Entscheidung, sich gegen seinen eigenen Bruder zu stellen, hatte das Fortbestehen des Rudels gesichert. Dank ihm bekam eine neue Generation die Möglichkeit zu leben und die Zeichen zu deuten, die die Welt für sie bereithielt. Dafür war sie ihm dankbar.
Der große Fluss wurde während der Regenzeit durch die zahlreichen Quellen im Gebirge gespeist. Anfangs nicht mehr als ein Rinnsal, nahm er auf seinem Weg entlang des Plateaus immer mehr Wasser auf, bis er schließlich zu einem breiten Strom anschwoll, der kräftig genug war, die weiten Ebenen zu speisen und Leben dorthin zu bringen, wo nie auch nur ein einziger Regentropfen fiel.
An einem der ruhigeren Ausläufer des Flusses stand ein Löwe und betrachtete sein verschwommenes Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Die Wunden, die er im Kampf erlitten hatte, waren unter seinem üppigen, dicht gewachsenen weißen Fell kaum auszumachen. Auch wenn es von außen nicht den Anschein hatte, so spürte Mavunde doch, dass der Zusammenstoß mit den Brüdern ihn vieles gekostet hatte. Solange seine Verletzungen nicht vollständig geheilt waren, würde er gezwungen sein, sich aus weiteren körperlichen Auseinandersetzungen herauszuhalten.
Ein letztes Mal tauchte Mavunde sein Gesicht in das kühle Nass, sodass auch die letzten Überbleibsel blutverklebten Fells gereinigt wurden. Dann sah er auf. Noch waren sie den Bergen nahe, doch der Flussverlauf würde sie zunehmend von ihnen wegführen. Das war nicht ihr Weg.
»Wir müssen den Fluss überqueren und uns südlich halten«, sprach er und sein Blick folgte seinem beschriebenen Weg. »Tagsüber können wir uns an den Bergen orientieren, nachts werden die Sterne unsere Wegweiser sein.«
Jawabu stand einige Schritt weit entfernt und sah sich um. Sein leises Hecheln verriet, dass das Wasser zwar seinen Durst gestillt haben mochte, jedoch nicht seinen Wunsch nach Rast und Ruhe. Der Anblick des Weges vor ihnen schien nicht gerade Begeisterung in ihm zu wecken.
»Warum folgen wir nicht dem Fluss und biegen später nach Süden ab?«, schlug er vor.
Mavundes Blick wurde ernster. »Weil uns das in das Flussdelta führen wird und zu nah an einen Ort, den ich ungern von Nahem sehen möchte, wie du weißt. Selbst Dhalimu hat sich von dort ferngehalten.«
Jawabus Blick verriet deutliche Zweifel.
»Was lässt dich eigentlich glauben, dass er die Wahrheit gesagt hat?«, sprach er. »Bisher hat nichts darauf hingedeutet, dass Sahib jemals Nachkommen gezeugt hat. Woher weißt du, dass Dhalimu nicht gelogen hat, um dir zu schaden?«
»Wissen tue ich rein gar nichts«, entgegnete Mavunde mit einer Bestimmtheit, die Jawabu die Augen verdrehen ließ. Diese Aussage hörte er nicht zum ersten Mal.
»Aber erinnerst du dich an das, was der alte Allastair über einen möglichen Nachkommen Sahibs gesagt hat? Wenn auch nur ein Funken Wahrheit in Dhalimus Worten steckt, lohnt es sich, der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Und wieso meinst du, dass uns ausgerechnet dieser Weg den Antworten auf unsere Fragen ein Stück näher bringen wird?«, fragte Jawabu und betrachtete zunächst die schier unendlichen und ebenso trockenen wie trostlosen Ebenen vor ihnen und anschließend eine seiner schon jetzt wunden Pfoten.
Mavunde erhob sich von seinem Platz und schüttelte das Wasser aus seinem Fell und aus seiner üppigen Mähne. Für seine Antwort würde er etwas weiter ausholen müssen.
»Es mag so ausgesehen haben, als hätte die Attacke seines Bruders Dhalimus trauriges Leben auf der Stelle beendet. Aber das hat sie nicht. Als Dhalimu vor mir am Boden lag, tödlich verwundet und den Blick voller Erstaunen, hat er noch immer geatmet. Mehr noch: er hat zu mir gesprochen. Es war nicht mehr als ein gebrechliches Flüstern, das Echo einer sterbenden Seele. Aber die wenigen Worte genügten, um mir einen Einblick in das zu geben, was er auf seinem irrsinnigen Feldzug der Rache in Erfahrung gebracht hatte.«
Jawabu gab ein resigniertes Seufzen von sich.
»Großartig«, entgegnete er zynisch. »Wir vertrauen also tatsächlich den Worten, die dein Erzfeind dir unmittelbar vor seinem Tod anvertraut hat. Vergiss nicht: er hat geschworen, dich zu töten. Macht dich das nicht zumindest ein wenig stutzig?«
»Ich denke nicht, dass er gelogen hat.«
»Natürlich nicht«, lachte Jawabu humorlos. »Er war ja auch ein prima Kerl, dieser Dhalimu. Warum in aller Welt sollte er den Löwen belügen, dessen Tod er sich mehr gewünscht hat als alles andere?« Seine Worte trieften vor Sarkasmus. »Hat er dir denn etwas mehr anvertraut als nur eine grobe Richtung?«
»Das hat er«, antwortete Mavunde, unbeeindruckt von der harschen Kritik seines Freundes.
»Nun?«, hakte Jawabu auffordernd nach. »Ich höre.«
»Wir haben einen Namen.«
Mit einem Mal schien Jawabus Interesse geweckt, obwohl sein Blick nach wie vor Skepsis verriet. »Du sagst also ernsthaft, dieser Wahnsinnige hat den Namen von Sahibs Nachkommen herausgefunden?«
»Den Namen seines Sohnes, ja«, bestätigte Mavunde.
»Du machst dich über mich lustig«, winkte Jawabu trocken ab. Doch als er den Blick seines Gefährten sah, wurde ihm klar, dass dieser es todernst meinte.
»Nun gut«, sprach Jawabu. »Wie heißt der Junge denn?«
Mavundes Blick glitt in die Ferne. Es mochte Einbildung sein, doch wenn er die Augen zu Schlitzen verengte, meinte er jenseits der weiten Ebene die Spitze einer Kopje zu erahnen, die das umliegende Land überragte. Er hatte schon einmal seine Pfote an diesen Ort gesetzt, vor vielen Jahren, noch vor der Geburt des Jungen. Wenn Dhalimu die Wahrheit gesagt hatte, würden sie Sahibs einzigen Erben an diesem Ort finden. Und dann würde sich zeigen, ob er die ungewöhnlichen Fähigkeiten seines Vaters geerbt hatte.
»Jivu«, sprach der weiße Löwe. »Sein Name ist Jivu.«
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...