Das nächste, woran Nia sich erinnern konnte, waren der strahlend blaue Himmel und das grüne Gras, in dessen Mitte sie lag. Der Abgrund war verschwunden und mit ihm das Brüllen. Doch die Welt wankte und drehte sich noch immer und ein nebelartiger Dunst lag in der Luft. Aus scheinbar unendlicher Ferne drangen dumpf die Rufe einer Löwin zu ihr heran.
»Nia! Bei unserer großen Mutter, was ist geschehen?«
Nia lag auf der Seite, die Pfoten halb in die Erde gegraben. Sie hatte die Ohren angelegt. Das Tosen und Donnern war verklungen und hatte einer friedlichen Stille Platz gemacht. Ein Schwarm von Zugvögeln glitt am Himmel über sie hinweg.
»Bist du verletzt?«, erklang Ardhis Stimme noch einmal, jetzt deutlich verständlicher. »Nia! Antworte mir!«
Gräser raschelten, als die Löwin eilig näher kam und sich zu Nia hinabbeugte. Sorge spiegelte sich in ihrem Blick wieder.
Nia drehte sich auf den Bauch herum, keuchte und hustete. Zitternd stemmte sie ihre Pfoten gegen den Boden. Es gelang ihr, sich aufzurichten, doch ihre Beine waren weich von dem Schreck, der tief in ihren Gliedern saß.
»Du bist plötzlich zusammengeklappt«, erklärte Ardhi. »Gerade als du die Gazellen erreicht hattest. Es sah furchtbar aus.«
Nia blinzelte ein paar Mal und spürte, wie der Schwindel allmählich abklang. Auch die Schmerzen ließen nach, lediglich ein oberflächliches Brennen blieb auf ihrer Haut zurück.
»Es geht mit gut«, sprach sie. »Nur ein paar Kratzer.«
Jetzt, da sie wieder zur Besinnung kam, kamen Stück für Stück auch die Erinnerungen zurück.
»Haben... haben wir etwas erlegt?«, fragte sie vorsichtig.
Ardhi schüttelte den Kopf. »Diese kleinen Biester sind auf und davon, die holen wir nicht mehr ein.«
Nicht ohne eine Spur Sehnsucht sah die Löwin den flüchtenden Beutetieren hinterher.
»Als ich gesehen habe, wie du gestürzt bist, habe ich die Jagd sofort abgebrochen.«
Nia seufzte resigniert. »Dann sind wir also wieder leer ausgegangen.«
»Das spielt keine Rolle. Die Hauptsache ist, dass du wohlauf bist. Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt.«
»Meinst du, die anderen sehen das auch so?«
Noch immer ein wenig benommen sah Nia zwei der anderen Löwinnen durch das brusthohe Gras auf sie zutraben. Während Falsafa eine eher gleichgültige Miene aufgesetzt hatte, schien ihre Schwester Wut und Frustration freien Lauf zu lassen. Nia wusste, was nun folgen würde, sie hatte es oft genug erlebt. Beschämt sah sie zu Boden.
»Kannst du nicht einmal etwas richtig machen?«, fauchte Imani aufgebracht. »Wie viel näher sollen wir dir die Beute noch vor die Schnauze setzen? Sollen wir sie vielleicht noch für dich festhalten?«
»Lass sie in Ruhe!«, entgegnete Ardhi und stellte sich schützend vor Nia, die beinahe vollständig im Gras versunken war, die Ohren vor Angst angelegt. »Sie kann nichts dafür, sie ist gestürzt. Das hätte jeder von uns passieren können!«
Das schien Imani nicht als Rechtfertigung zu genügen. Ihr grimmiger Blick wanderte von Nia zu Ardhi und wieder zurück und ließ weder Einsicht noch Mitleid erkennen.
»Gestürzt, hm? Vielleicht sollte sie erst einmal laufen lernen, bevor sie auf die Jagd geht. Es ist immerhin nicht das erste Mal, dass ihre Pfoten sie im Stich lassen!«
»Keine von uns wurde als Meisterjägerin geboren, auch du nicht, Imani«, sprach Ardhi, die ganz offensichtlich nicht viel von der Meinung der beiden Schwestern zu halten schien. »Das solltest du nicht vergessen.«
»Man muss kein Meisterjäger sein, um eine Gazelle zu reißen, die weniger als eine Pfotenbreite vor der eigenen Schnauze entlang taumelt!«
Mit einem Nicken stimmte Falsafa ihrer Schwester zu. »Sie hat recht, Ardhi. Es war zu leicht, um es entschuldigen zu können.«
Schnaubend trat Ardhi einen Schritt vor und sah Falsafa direkt in die Augen. »So wie es aussieht, hattet ihr beiden auch keinen größeren Erfolg als Nia. Oder täusche ich mich?«
Für einen Moment schwieg Falsafa, offenbar abschätzend, wie weit Ardhi bei der Verteidigung ihrer Nichte und guten Freundin wohl gehen würde. Gerade wollte sie etwas erwidern, als Samaha ihr zuvorkam.
»Was geht hier vor sich?«, sprach die Löwin und wies Ardhi und Falsafa mit strengen Blicken zurecht. Sie und die beiden anderen Treiberinnen näherten sich der kleinen Gruppe.
Noch immer standen sich Ardhi und Falsafa Auge in Augen gegenüber, ungeachtet der Tatsache, dass sie beide Respekt vor Samaha besaßen. Doch keine von ihnen war gewillt, nachzugeben und Schwäche zu zeigen. Es war äußerst selten, dass die ansonsten so kluge und besonnene Ardhi sich zu einem solchen Kräftemessen hinreißen ließ, weshalb ihr Verhalten Nia Sorgen bereitete. Wenn es zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam, war die junge Nia keine sonderlich große Hilfe.
»Es ist Nia«, antwortete Imani, als sie erkannte, dass keine der anderen Anstalten machte, auf Samahas Frage einzugehen. »Sie hat es mal wieder verbockt.«
»Schluss mit dem Unfug!« Indem sie sich unmittelbar zwischen sie stellte, trieb Samaha die beiden streitenden Kontrahentinnen wie ein Keil auseinander. Nur widerwillig wichen sie zurück, die Blicke weiterhin eisern auf einander gerichtet.
»Muss ich euch daran erinnern, dass wir als Gruppe jagen? Wenn eine von uns versagt, haben wir alle versagt. Es wird niemand beschuldigt! Und erst recht möchte ich kein Gezanke erleben!«
Das waren ungewöhnliche Worte aus dem Mund einer Löwin, die selbst oft genug gezeigt hatte, dass es ihr schwerfiel, ihr Temperament unter Kontrolle zu halten. Nichtsdestotrotz zeigten sie Wirkung. Nach einigem Zögern ließen die beiden Löwinnen schließlich ohne weitere Widerworte voneinander ab. Doch die Anspannung, die in der Luft lag, war noch immer deutlich spürbar.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Gemüter sich ein wenig beruhigt hatten, wandte sich Samaha an Nia und musterte diese streng.
»Sieh' mich an. Bist du verletzt?«
Nia antwortete nicht direkt. Angesichts der harschen Worte der anderen Löwinnen war sie förmlich geschrumpft. Allein aufzublick-en und Samaha in die Augen zu sehen, kostete sie Überwindung.
»Es ist nichts Schlimmes«, sprach sie schließlich kleinlaut.
»Dann hast du Glück gehabt.« Samahas Stimme klang offen und direkt, aber nicht verletzend. »Ein Sturz während der Jagd ist eine gefährliche Angelegenheit und auf keinen Fall auf die leichte Schulter zu nehmen. Knochen brechen innerhalb von Augenblicken, aber sie brauchen viele Tage, ehe sie wieder verheilt sind.«
Nia nickte stumm.
»Du kehrst am besten zu den Schlafplätzen zurück und schonst dich, wir sprechen uns dann später. Was den Rest von uns angeht...« Samaha sah zu den anderen Löwinnen auf, die sich um sie und Nia versammelt hatten, und hob die Stimme. »Wir haben den Gazellen mehr als genug Vorsprung gewährt. Wird Zeit, dass wir die Verfol-gung aufnehmen.«
Ardhi, die endlich von Falsafa abgelassen hatte, trat an die Jagdführerin heran.
»Ich begleite Nia«, sprach sie. »Für den Fall, dass sie sich vielleicht doch mehr getan hat, als es den Anschein haben mag. Sobald ich sie in Sicherheit weiß, komme ich nach. Versprochen.«
Samaha nickte zustimmend. »In Ordnung. Aber beeil dich, auf eine gute Jägerin wie dich verzichte ich nur sehr ungerne.«
Ihr Blick ließ erahnen, dass die Löwin nicht allzu viel Vertrauen in die Jagdkünste der verbliebenen Gefährtinnen hatte. Dann, im nächsten Moment, setzte sie sich in Bewegung. Samaha schlug die Richtung ein, in die die kleine Gazellengruppe entkommen war. Die anderen, bis auf Nia und Ardhi, folgten ihr wortlos. Nia mied jeglichen Augenkontakt zu den abrückenden Löwinnen, doch sie war sich sicher, dass viele von ihnen ihr im Vorübergehen den ein oder anderen bitterbösen Blick zuwarfen.
Schließlich blieben sie und Ardhi alleine zurück.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...