Angavu hatte sie eingeholt und zog sie nun mit einer seiner Vorderpfoten zu Boden. Unsanft wurde die Löwin in den Sand gezehrt, wo Sträucher ihren Blick versperrten.
»Ich glaube, er hat uns noch nicht bemerkt«, zischte Angavu und lockerte seinen Griff. Es war das erste Mal, dass er Nia berührt hatte und mit seiner Berührung hatte er ihr gleichzeitig Schmerzen zugefügt. Erschrocken sah die Löwin ihn an, ehe sie begriff, was geschehen war. Angavu spähte derweil zwischen den Sträuchern hindurch, seinen Körper nach wie vor flach am Boden haltend.
»Das ist nicht euer geflohener Rudelführer, nicht wahr?«
Zögerlich riskierte Nia einen Blick über das Dickicht hinweg. Der Löwe befand sich zu weit entfernt, als dass sie seine Gesichtszüge hätte erkennen können, doch allein seine Körperhaltung widersprach allem, was sie über Tazamaji zu wissen glaubte. Der Fremde sah auf das Plateau herab wie ein tyrannischer Herrscher auf sein Reich.
»Nein«, bestätigte Nia Angavus Vermutung, ohne dabei den Blick abzuwenden. »Ich glaube, das ist einer der fremden Eindringlinge.«
Also waren die Fremden tatsächlich gekommen, um das Rudel zu übernehmen. Nia hatte es befürchtet, aber bis zuletzt nicht wahrhaben wollen. Nun bestand kein Zweifel mehr.
»Ich muss mich ihm stellen und ihn darum bitten, mich wieder in das Rudel aufzunehmen.«
»Tu das nicht!«, flüsterte Angavu eindringlich. Seine Augen verrieten aufrichtige Sorge. »Sie werden dich töten, so wie sie es mit deinen Freundinnen getan haben!«
»Ohne Rudel bin ich auch so gut wie tot. Es ist meine einzige Chance.«
Es war das, was Ardhi ihr immerzu eingeprägt hatte. Das Rudel war ihr Beschützer, es versorgte sie und gab ihr Sicherheit. Nur in der Gruppe waren die Löwinnen den Gefahren gewachsen, die in der Wildnis lauerten.
»Komm mit mir«, sprach Angavu und seine Worte hatten etwas ungewohnt Flehendes an sich. Er sah Nia in die Augen, doch sie wich seinem Blick aus.
»Ich kann dir zeigen, wie man in den Bergen überleben kann.«
Niemand konnte sagen, wie die Fremden auf die Rückkehr einer Löwin in das Rudel reagieren würden. Doch sobald Nia aus ihrem Versteck hervor und in das Sichtfeld des Löwen trat, lag ihr Leben nicht länger in ihren eigenen Pfoten, sondern war von der Gutmütigkeit und Gnade zweier mordender Verrückter abhängig. Auf der anderen Seite war Nia eines deutlich bewusst: wenn sie ihren Gefährtinnen nun den Rücken zuwandte, würde sie vielleicht nie wieder Teil eines Rudels sein, bis zu ihrem Tod, der möglicherweise deutlich näher lag, als es ihr lieb war.
Die Löwin betrachtete die Felsen und das Plateau mit seinen seichten Hügelverläufen und den unzähligen Bäumen und Sträuchern, dann sah sie Angavu an, dessen Gesicht auffallend ernst war. Offenbar schien ihm wirklich etwas an Nias Leben zu liegen.
Im nächsten Augenblick erhob sie sich, vorsichtig, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Nia, bitte. Überleg' dir gut, was du tust.«
Nia nickte langsam, während sie sich Mühe gab, sich an ihren neuen Gedanken zu gewöhnen.
»Ich denke, das habe ich bereits«, sprach sie, wobei sie sich bemühte, ihre Unsicherheit zu überdecken. »Ich bin den ganzen Weg hergekommen, um wieder Teil jenes Rudels zu werden, das ich verlassen musste, um nicht getötet zu werden. Aber dieses Rudel scheint nicht mehr zu existieren. Ich war dumm und naiv und habe mir falsche Hoffnungen gemacht. Dabei ist die Wahrheit offensichtlich. Ich bin allein.«
»Nein«, sprach Angavu und die Sorge wich aus seinen Zügen. »Das bist du nicht. Komm mit, wir finden einen sichereren Ort.«
Mit einem letzten Blick in Richtung des wachsamen Fremden richtete auch er sich auf. Nia ließ ihm den Vortritt, dann folgte sie ihm, geduckt, weg von den Schlafplätzen, den Weg entlang, über den sie gekommen waren.
Als sie sich nach nur ein paar Schritte erneut umsah, fiel ihr plötzlich jemand auf, eine Löwin, die sich den Felsen von Westen her näherte. In ihrem Maul trug sie eine erlegte Gazelle. Sie war nah genug, dass Nia ihr Gesicht erkennen konnte.
»Samaha.«
Überrascht blieb Nia stehen. Sie hatte die schlaue und starke Löwin für tot gehalten. Offenbar hatte sie sich geirrt.
»Nia«, zischte Angavu hinter ihr mit Nachdruck. »Beeil' dich, sonst sehen sie uns!«
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Savanne in der Abendkühle
FantasíaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...