Es war gegen Nachmittag, als Nia das Tal zum ersten Mal erblickte. Ohne zu fragen, war ihr sofort klar, dass es sich um jenen Ort handeln musste, von dem Angavu gesprochen hatte. Von einem Ende zum anderen war das Tal dicht mit Bäumen und Büschen überzogen, lediglich in der Mitte, vermutlich am tiefsten Punkt, hatte sich Wasser gesammelt, so dass ein See entstanden war. Umgeben war das Tal von mehreren Gebirgsausläufern, die teilweise steil anstiegen. Dahinter erhoben sich majestätisch die großen Berge von Milima Kubwa.
Der Abstieg ins Tal stellte sich als anspruchsvoller heraus, als Nia es zunächst angenommen hatte. Sie benötigten mehrere Ansätze, bis sie einen Weg fanden, der eben genug war, um ihm einigermaßen gefahrenlos folgen zu können. Nichtsdestotrotz fand Nia sich wenig später inmitten einer ungewollten Kletterpartie wieder. An einigen Stellen war der Pfad so steil, dass die Löwen sich von Stein zu Stein springend hinabhangeln mussten, um nicht den Halt zu verlieren und abzustürzen. Der Weg entlang des Gebirgskamms war verglichen hiermit ein Spaziergang gewesen. Doch Angavu war ein geschickter Wegführer und so kamen sie den grünen Bäumen und Büschen mit jedem Sprung ein Stück näher.
»Komm schon«, rief Angavu aufmunternd. »Du schaffst das! Es ist nicht mehr weit!«
Zögerlich spähte Nia über die Felskante vor ihren Pfoten, nicht ohne ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Angavu stand ein gutes Stück unter ihr und blickte zu ihr herauf. Der Steinboden, auf dem er stand, wirkte ausgesprochen hart und ihre Pfoten schmerzten noch von den letzten Sprüngen, die sie hinter sich gebracht hatte. Dieses Mal war der Höhenunterschied noch größer. Die Löwin schluckte.
»Es geht so tief runter«, brachte sie ihre Sorgen zum Ausdruck.
»Du musst dafür sorgen, dass deine Beine bei der Landung nachgeben, damit du den Aufprall abfedern kannst. Hast du gesehen, wie ich es gemacht habe?«
Nia nickte zaghaft. Es war beinahe unheimlich gewesen, wie leicht es bei Angavu ausgesehen hatte. Er hatte nur kurz die Höhe abgeschätzt und war einfach losgesprungen, offensichtlich ohne irgendwelche Bedenken. Wie machte er das?
Die Löwin wandte ihren Blick von Angavu ab und ließ ihn über das Tal schweifen. Sie waren bereits so nahe, dass die Bäume Nia die Sicht auf den See versperrten. In den Baumkronen meinte sie allerlei farbenprächtige Vögel zu erkennen. Nur noch ein paar Sprünge und der Hang vor ihren Pfoten würde flach genug sein, um Halt zu bieten. Sie musste sich einfach überwinden, ein Zurück gab es im Augenblick so oder so nicht.
»Was ist los, Nia?«, grinste Angavu. »Hast du Angst, dir deine zarten Pfötchen anzuhauen? Na los, spring einfach, denk nicht drüber nach. Wenn du nachdenkst, wird es nur immer schlimmer.«
»In Ordnung«, sprach Nia, all ihren Mut zusammennehmend. »Aber wenn ich mir meine Beine breche, bist du es, der mich hier wieder hinauftragen muss!«
Daraufhin beugte sie sich so weit vor, wie das Gleichgewicht es ihr erlaubte. Die Angst und den aufkeimenden Schwindel schluckte sie hinunter. Sie atmete tief durch, leerte ihre Gedanken und stieß sich mit ihren Hinterpfoten vom Fels ab. Zu spät bemerkte sie, dass sie nicht sorgfältig genug gezielt hatte.
In dem kurzen Augenblick, in dem sie mit den Pfoten voran durch die Luft segelte, sah sie den überraschten Angavu merkwürdig langsam näherkommen, ganz als hätte Mutter Natur für einen Moment die Zeit angehalten. Nur einen Atemzug später prallten die beiden Löwen zusammen. Durch die Wucht von Nias Aufprall umgeworfen, stürzte Angavu rücklings über die Felskante hinweg. Nia, die keine Chance bekam, zu stoppen, fiel mit ihm. Seite an Seite stürzten die beiden Löwen teils schlitternd, teils rollend den Hang hinab. Unsanft stieß Nia gegen mehrere Felsen und bekam zwischenzeitig Angavus Pfote mit Wucht ins Gesicht geschleudert. Als der Hang abflachte, rollten sie noch ein gutes Stück weiter, ehe sie ineinander verschlungen zwischen den Bäumen im Unterholz zum Liegen kamen.
Nia rang keuchend nach Luft. Ein lähmender Schmerz breitete sich über ihre Schulter und ihr Gesicht aus. Das Klettern mochte ihr vielleicht noch schwerfallen, mit dem Stürzen war sie dagegen inzwischen sehr vertraut. Aber sie war am Leben und schien noch alle Glieder bewegen zu können. Angavu unter ihr hustete und schüttelte sich den Staub von der Mähne. Dann begann er von Herzen zu lachen.
»Siehst du«, sagte er. »Es war tatsächlich nicht mehr weit.«
Zunächst sah Nia ihn nur irritiert an, doch während der Schock aus ihren Gliedern wich, machte sich Erleichterung in ihr breit und sie musste ebenfalls unweigerlich lächeln.
»Wir hätten es gleich so machen sollen«, sprach sie. »Dann hätte ich mir die vielen Sprünge erspart.«
Angavu erwiderte ihr Lächeln. »Gut gebrüllt. Wenn du nun die Gnade hättest, deinen Hintern von meiner Brust zu entfernen, könnten wir uns ein wenig in diesem wuchernden Dickicht umsehen. Mal sehen, was es hier zu entdecken gibt.«
Nia rappelte sich auf und gab Angavu damit Platz. Abgesehen von ein paar oberflächlichen Kratzern schienen sie den Sturz beide gut überstanden zu haben. Vor ihren Augen breitete sich nun ein dichter Wald aus, dichter als jede Baumgruppe auf dem Plateau und um ein vielfaches größer. Viele der hier wachsenden Pflanzen hatte Nia noch nie zuvor gesehen. Da gab es hoch aufragende Bäume, teilweise wahre Riesen mit knorrigen Stämmen, die wie Schlangen ineinander verschlungen waren und deren gelbliche Früchte überall auf dem Boden verstreut lagen, und Büsche mit bunten Blüten und langen weißen Dornen. Dort, wo das Sonnenlicht bis zum Waldboden vordrang, sprossen allerlei Gräser und Farne in den unterschiedlichsten Formen.
Während die beiden Löwen sich einen Weg zwischen den Gräsern hindurchbahnten, lauschte Nia auf die zahlreichen Laute, die von Nah und Fern zu ihnen drangen. Viele von ihnen ließen eindeutig auf Vögel schließen, bei anderen war Nia sich nicht sicher. Das schien Angavu zu bemerken.
»Klingt nach Pavianen«, meinte er, während er mit der Vorderpfote einige Farne beiseite schob, die ihm teilweise bis zur Brust reichten. »Keine Sorge, die tun nichts. Sobald sie dich sehen, flüchten sie auf den nächsten Baum. Ist schwierig, die Viecher zu packen zu bekommen.«
»Auf dem Plateau gibt es auch Paviane«, sagte Nia, während sie sich umsah, noch immer überwältigt von der Vielzahl der fremden Eindrücke.
»Es gibt immer irgendwo Paviane«, fügte Angavu hinzu. »Und sie schaffen es immer wieder, einen um den wohlverdienten Schlaf zu bringen. Komm, lass uns sehen, ob wir bis zum See durchkommen. Ich habe einen mörderischen Durst.«
Kaum ausgesprochen, beschleunigte Angavu seine Schritte. Wie er in diesem Dickicht die Orientierung behalten konnte, war Nia ein Rätsel. Aber sie vertraute ihm. Er hatte es geschafft, einen Weg in das Tal zu finden, also würde er auch jetzt wissen, was er tat. Und tatsächlich, es dauerte nicht lange, da stieg Nia der unverwechselbare Geruch von Feuchtigkeit in die Schnauze. Zwischen den Bäumen meinte sie bereits das Flimmern der Sonne auf der Wasseroberfläche ausmachen zu können.
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Savanne in der Abendkühle
FantasiDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...