Die Jungen - Teil 2

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»Samaha!« Zwischen den Felsen kam eine Löwin zum Vorschein. Es war Imani.

»Da bist du ja«, sprach sie und man hörte ihr an, dass sie außer Atem war. »Was tust du denn hier, du dummes Flusspferd? Wir hatten den toten Baum als Treffpunkt ausgemacht. Deinetwegen dürfen wir jetzt über das halbe Plateau laufen, um die Gnuherde einzuholen.«

Vorwurfsvoll sah die Löwin Samaha an. Erst jetzt schien Imani der große Rudelführer aufzufallen, der nicht weit von ihr entfernt stand. »Oh, verzeiht mir... störe ich?«

Mit einem genervten Schnauben beantwortete Dhalimu die Frage. Dann fiel sein durchdringender Blick wieder auf Samaha. Die Löwin wog die Situation ab. Auf ihrem Weg hierher war sie direkt am toten Baum vorbeigekommen, einem charakteristischen Ort, den die Löwinnen nicht selten als Treffpunkt für die Jagd wählten. Aber von Imani oder einer der anderen Löwinnen hatte jede Spur gefehlt.

»Verzeih mir, Imani«, sprach Samaha so überzeugend wie es ihr möglich war. »Ich muss unsere Abmachung durcheinander gebracht haben. Dabei war ich mir so sicher.«

»Tja«, bemerkte Imani und wandte sich mit einem Schulterzucken an Dhalimu. »Sie wird eben auch nicht jünger.«

Dhalimu schwieg. Wenn die Situation ihn verwirrte, so zeigte er es nicht. Erst als Samaha sich bereits zum Gehen gewandt hatte, warf er ihr einen letzten drohenden Blick hinterher. Doch er machte keine Anstalten, ihr und Imani zu folgen.

Als die beiden Löwinnen sich außer Hörweite befanden, wandte Samaha sich im Flüsterton an ihre Freundin.

»Ich danke dir. Du hast mir möglicherweise gerade das Leben gerettet.«

»Du schuldest mir etwas«, hielt Imani trocken fest. »Und jetzt erzähl mir, wo du dich den ganzen Morgen über herumgetrieben hast.«

Zur Sicherheit warf Samaha einen Blick über die Schulter zurück. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Dhalimu ihnen nicht folgte, wandte sie sich wieder an ihre Freundin.

»Ich erzähle es dir. Vorher muss ich aber wissen, ob Kimya und die Jungen in Sicherheit sind.«

Imani nickte bestätigend.

»Soweit ich weiß, geht es ihnen gut«, erklärte sie. »Sie sind unten am Fluss. Gemeinsam konnten wir Kimya dazu bewegen, endlich ein wenig ihren Kopf aus dem Bau zu halten.«

Erleichtert über die Nachricht atmete Samaha auf. Sie hatte bereits mit dem Schlimmsten gerechnet.

»Komm, ich bring dich hin«, schlug Imani vor. »Dann kannst du dich selbst überzeugen. Zum Jagen haben wir noch genug Zeit.«

Samaha willigte ein und die beiden Löwinnen schlugen den Weg in Richtung Fluss ein. Nach einigen Schritten durch das halbhohe Gras begann Samaha von dem nächtlichen Ereignis, dessen Zeugin sie geworden war, zu berichten. Sie bemühte sich, das Gespräch zwischen den Brüdern nach Möglichkeit haargenau wiederzugeben, damit Imani sich ihr eigenes Bild machen konnte.

Nachdem sie geendet hatte, sah sie Imani erwartungsvoll an, in der Hoffnung, die jüngere Löwin würde sich einen Reim auf das rätselhafte Verhalten der Brüder machen können. Doch Imani wirkte ebenso ratlos.

»Kranke Bastarde«, war das erste, was ihr zu Samahas Bericht einfiel. »Wenn die auf der Suche nach jemandem sind, warum terrorisieren sie dann uns? Ist mir egal, was sie mit irgendeinem Fremden anstellen, aber sie sollen uns aus der Sache rauslassen. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass Ardhi und meine Schwester ins Gras gebissen haben, nur weil diese Typen nichts Besseres zu tun hatten.«

Samaha stimmte ihr zu.

»Die Frage ist doch, warum sie der Meinung sind, dass der Kerl, den sie offenbar suchen, hierher kommen sollte. Dhalimu scheint ja davon auszugehen. Und er hält beinahe immerzu Wache, Tag und Nacht.«

»Hm«, machte Imani. »Mir gefällt das Ganze jedenfalls überhaupt nicht. Wenn wir ihnen wirklich so egal sind, wie du sagst, dann können wir niemals wirklich wissen, ob sie nicht im nächsten Augenblick unsere Innereien über den Savannenboden verteilen.«

»Wir sollten jedenfalls auf der Hut sein«, bestätigte Samaha. »Mehr noch als wir es bisher waren.«

Ein Stück weiter den Hang hinab konnte die Löwin bereits die Uferböschung ausmachen. Dort sah sie auch Kimya, die ein Auge auf ihre Jungen warf, während diese sorglos im Gras umhertollten. Shahidi war bei ihr, offenbar unterhielten sie sich.

Bei diesem Anblick kam Samaha ins Grübeln. Ohne Vorwarnung blieb sie stehen. Imani, die ihr bereits ein paar Schritte voraus war, sah sich fragend nach ihr um.

»Was ist, kommst du?«

Samaha haderte mit sich selbst. »Ich würde sie gerne in Sicherheit wissen, Imani.«

Ihr Blick folgte einem der Jungen, das ungezügelt das Flussufer entlangstürmte, wahrscheinlich einem Schmetterling oder einem Grashüpfer folgend. Sofort kam Kimya herbeigeeilt und brachte es zurück zur Gruppe.

»Ich weiß, was du meinst«, sprach Imani, nachdem sie Samahas Blick gefolgt war. »Ich würde auch nur ungern mitansehen müssen, wie diese Bastarde einem der kleinen Knäuel das Fell über die Ohren ziehen.«

Samaha sah sie nicht an, sie war mit ihren Gedanken beschäftigt. Es war nur eine Idee, aber sie hatte sich bereits tief in ihren Kopf gepflanzt und erste Wurzeln geschlagen.

»Wir müssen sie hier wegschaffen«, fasste sie ihre Gedanken schließlich zusammen.

Irritiert sah Imani sie an. »Wie willst du das anstellen?«
»Das weiß ich noch nicht«, gestand Samaha, spürte aber gleichzeitig, wie die Idee in ihrem Kopf Gestalt annahm. »Aber ich werde eine Möglichkeit finden. Das bin ich ihnen schuldig.«

Ein Stück flussabwärts, außerhalb der Sicht der beiden Löwinnen, hockte ein grimmig dreinblickender Löwe im hohen Gras. Er hatte die Löwinnen seit ihrem Aufbruch von den Schlafplätzen nicht aus den Augen gelassen und nun lauschte er, als der seichte Wind Wortfetzen des Gesprächs zu ihm herüber trug. Was ihm zu Ohren kam, gefiel dem Löwen nicht und als die beiden Weibchen sich aufgemacht hatten, um die Böschung zum Fluss hinab zu steigen, setzte auch er sich in Bewegung. Er würde seinem Bruder genauestens Bericht erstatten. Und dann würden sie gemeinsam entscheiden, was mit den Aufrührerinnen geschehen würde.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt