Diesen Oneshot habe ich während einer Schreibwerkstatt geschrieben, die ich einmal im Monat besuche.
Die Inspiration zum Schreiben war diesmal ein Briefumschlag. Ich habe gleich eine ganze Science-Fiction Kurzgeschichte daraus gemacht, die ein bisschen von Doctor Who inspiriert ist, aber nicht direkt damit zu tun hat. Oder vielleicht ja doch.
Es ist mal wieder in der Du-Sicht geschrieben, mittlerweile ist es gar nicht mehr so ungewohnt. Solange man keine Verben im Präteritum benutzen muss, geht es eigentlich xD
(Sowas wie "Du aßt etwas" oder "Du schütteltest es" klingt einfach seltsam😂)
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Der Briefkasten ist leer.
Es ist ein Tag wie jeder andere, genauso öde wie alle Tage in deinem Leben. Du hofftest, endlich einmal Post zu bekommen - egal, ob nun ein Brief deiner Großtante oder die Rechnung der neuen Möbel. Ein Brief hätte dir in diesem Moment ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert.
Doch der Briefkasten ist wie immer leer.
Seufzend öffnest du das Gartentor und bist in Gedanken schon bei der Planung des restlichen Tages - und da siehst du ihn.
Es ist doch ein Brief angekommen, aber er liegt nicht im Briefkasten, sondern auf dem Boden neben dem Himbeerstrauch. Du bückst dich und hebst ihn auf. In dünnen Druckbuchstaben ist dein Name auf die Vorderseite geschrieben. Irgendetwas daran kommt dir bekannt vor und und du fängst an zu grübeln, bis du auf einmal erkennst, dass es deine eigene Handschrift ist. Genauso schreibst du, wenn du in Eile bist und dir wichtige Notizen machen musst. Aber du kannst dich nicht erinnern, je diese Worte auf den Briefumschlag geschrieben zu haben. Und in diesem Punkt irrst du dich nicht - tatsächlich hast du sie noch nicht geschrieben.
Mit gerunzelter Stirn drehst du den Umschlag um. Er ist nicht einmal verschlossen. Als du ihn schüttelst, fällt ein kleines Blatt heraus. So verwirrt du auch bist, deine Neugier behält die Oberhand und du beginnst die Worte in deiner eigenen Handschrift zu lesen.
"Es ist der siebzehnte Oktober und heute morgen hat es wie aus Eimern geschüttet.
Hoffe ich zumindest, sonst hat der Brief das richtige Datum verfehlt."
Da fehlt doch die Anrede, denkst du. Und - das richtige Datum? Du bist noch verwirrter. Was soll das denn heißen? Außerdem ist heute der achtzehnte Oktober, nicht der siebzehnte. Aber den Regenguss gestern früh gab es tatsächlich. Du hast keine Ahnung, was du von alldem halten sollst, also liest du weiter.
"Das Papier ist klein, deshalb fasse ich mich kurz. Du fragst dich wahrscheinlich, ob das hier echt deine Handschrift ist. Und ja, das ist sie. Also, das Wichtigste zuerst: Ich bin du.
Besser gesagt, ich war einmal du. Du liest gerade einen Brief von deinem zukünftigen Ich.
Die Erklärung dauert zu lange. Ich würde ja jetzt schreiben, dass du all das sowieso noch selbst erleben und es dann verstehen wirst, aber wenn alles nach Plan läuft, wirst du das gar nicht. Gut, ich fasse es kurz: Ich habe ein Problem und du musst die Sache wieder geradebiegen."
Was für ein Problem?, fragst du dich. Mit der Tatsache, dass du gerade deine eigene Zukunft in den Händen hältst, gehst du erstaunlich leichtfertig um. Oder du hältst das Ganze nur für einen seltsamen Traum und wirst sowieso gleich aufwachen.
Du liest weiter.
"Nein, du träumst nicht. Echt, es ist kein blöder Traum.
Mein Problem ist, dass ich festsitze. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Aber das wird keine Rolle spielen. Man hat mich entführt und ich habe nicht viel Zeit, um meinen bevorstehenden Tod noch abzuwenden. Er wird mir nicht helfen. Er hat mich verraten und allein gelassen. Vertrau ihm nicht. So, wie ich ihn kenne, wird er versuchen, den Brief abzufangen. Er redet ständig von irgendwelchen Regeln der Zeit. Gut möglich, dass ich sie gerade breche. Er wird den Brief um einen Tag verfehlen und am achtzehnten Oktober bei dir auftauchen. So hast du genug Zeit, über das hier nachzudenken. Und über ihn, auch wenn du ihm natürlich noch gar nicht begegnet bist.
Weißt du, als ich noch du war - ein bisschen älter als du es jetzt bist - bin ich mit ihm weggelaufen. Ich habe alles zurückgelassen. Ich habe ihm vollkommen vertraut. Das war mein größter Fehler. Also musst du dafür sorgen, dass es gar nicht erst dazu kommt. Wenn er bei dir auftaucht, vertrau ihm nicht. Bitte, tu nur eine Sache für mich. Schick ihn fort oder lauf weg, so schnell du kannst. Und richte ihm von mir aus..."
Weiter kommst du nicht, denn in diesem Augenblick hörst du seine Stimme und weißt, dass er es ist. Kurz fragst du dich, wie er auf einmal in deinen Garten kommt, ohne dass du es bemerkt hast. Deine Augen erhaschen noch die Worte Verrat und Zeitreise auf den nächsten Zeilen des Briefes, ehe du aufblickst. Er ist groß und trägt einen violetten Mantel, der ihm ein bisschen das Aussehen eines Zauberers verleiht. Auf den ersten Blick wirkt er nicht abstoßend - sogar ein wenig sympatisch. Doch dann siehst du in seine Augen und erkennst die Lügen. So viele Lügen. So viele Geheimnisse. Und noch etwas siehst du in dem dunklen Gemisch aus Sturmgrau und Jadegrün, aber dein Verstand kann es nicht so ganz begreifen.
Du weißt, dass der Schreiber des Briefes Recht hatte. Ihm kann man nicht trauen. Kurz bleibt dein Blick an seinen Lippen hängen, aber du hörst ihm gar nicht erst zu. Innerhalb einer Sekunde ist deine Entscheidung gefallen. Du umklammerst den Brief, wirbelst herum und läufst davon, so schnell dich deine Füße tragen. Weg von dem seltsamen Mann, weg von deiner Zukunft, die bereits auf Papier geschrieben steht.
Die Zeit um dich herum verändert sich. Sie ist plötzlich überall, umhüllt dich vollkommen. Sie fließt immer langsamer und langsamer und deine Füße scheinen kaum noch den Boden zu berühren, als du läufst. Aber du läufst überhaupt nicht mehr. Du fragst dich, wieso die Gedanken in deinem Kopf sich kaum noch bewegen wollen und wieso du auf einmal nicht mehr Herr über dich selbst bist.
Bis die Zeit schließlich stehen bleibt und alles wie in Glas eingefroren ist. Du hast nur noch Zeit für einen einzigen Gedanken, ehe die Zeit buchstäblich aufhört zu existieren:
Das war die falsche Entscheidung.
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♡ Oneshots ♡
Short Story"Ist das nur eine Geschichte oder ist das wirklich passiert?" "Alles, was je erzählt wurde, ist wirklich passiert. Geschichten sind unsere vergessenen Erinnerungen." Oft sind es Zitate wie diese, die mich zu meinen Kurzgeschichten inspirieren, welch...
