Die Traumbibliothek

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Diesen Oneshot habe ich im Rahmen des Schreibwettbewerbs von LinaewenFinduilas geschrieben, zum Thema Träume.
Spontan habe ich noch ein kleines Aesthetic dazu gemacht, das ihr oben seht.
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Ein leises Knarzen war zu hören, als der Absatz des zierlichen Stiefels auf die hölzerne Treppe trat. Alles war hier aus Holz gefertigt - der Boden, die kunstvoll verzierten Wände und die unzähligen verstaubten Regale, die sich aneinanderreihten. Sie schienen immer weiter zu reichen und erstreckten sich über den gesamten Raum, dessen Ausmaß kein Auge bemessen konnte.
Behutsam lief die kleine Gestalt die Stufen hinab.
Staub wirbelte davon, und mit ihm die Erinnerung. Unten angekommen, drehte sie sich um und erwartete, am Anfang der Treppe die Tür zu sehen, durch die sie eben gekommen sein musste. Doch da war keine. Für einen Augenblick runzelte sie die Stirn und begann zu zweifeln.
Doch die Gedanken schwebten davon, als sie vor sich den alten Mann erblickte. Ein gütiges Lächeln lag auf seinem Gesicht, und man hatte das Gefühl, dass hinter dem spärlichen Haar und den Zeichen seines Alters viel mehr steckte, als ein Auge erfassen konnte. Dennoch kam es ihr so vor, als würden die Umrisse seiner Gestalt verschwimmen, sobald sie ihn genauer betrachtete. Sie konnte nicht definieren, was er war, oder ob er überhaupt etwas war. Er hatte etwas Vertrautes an sich, und doch etwas Fremdes.
Das war der Poet; der Mann, der hier zuhause war.
Und sie war die Träumerin, die ihn besuchte.
"Was ist das für ein Ort?", wollte sie wissen und ließ ihren Blick über die Regale schweifen. Sie konnte nicht ganz erkennen, was sich darin befand. Sobald sie versuchte, über das zu grübeln, was ihre Augen ihr sagten, verblasste der Gedanke und rückte in die Ferne, wie vom Nebel verhüllt.
Der alte Mann hob seine Laterne, die ihr warmes Licht über die Schatten der Regale warf.
"Das ist die Traumbibliothek", sagte er mit der tiefen Stimme eines Erzählers, der den Anfang einer langen Geschichte begann. Und sie hoffte sofort, er würde ihr noch eine seiner Geschichten erzählen.
Die Träumerin trat auf eines der Regale zu. Nun erkannte sie, dass es Buchrücken waren, die sich in den Fächern aneinanderreihten. Behutsam hob sie eine Hand und strich über den Einband eines Buches. Es fühlte sich alt an; älter, als ihr begrenzter Verstand sich vorstellen konnte.
"Das sind Bücher", hörte sie sich sagen.
Der Poet kam näher. Das Licht seiner Laterne fiel nun auf das Mädchen. Er lächelte wissend.
"Nein, es sind Träume."
Erstaunt blickte sie zu ihm auf. "Wie können es Träume sein?"
"Wenn du liest, träumst du auch. Du erweckst die Worte selbst zum Leben mit deiner Fantasie, du entwickelst Vorstellungen, die auf den Worten basieren."
"Aber die Worte hat ein anderer geschrieben."
"Das ist richtig. Deshalb gehört der Traum nicht nur dir allein. Der Schreiber dieser Worte - der Dichter, der Poet - hat ihn erschaffen, aber du erweckst ihn zum Leben", erklärte er.

Neugierig hob sie eine Hand und nahm ein dickes, dunkelgrünes Buch aus dem Regal. Der Titel war nicht mehr zu entziffern. Behutsam strich sie über die Seiten und ein Gedanke schwebte durch ihren Kopf.
"Wenn ich ein Buch aufschlage... was würde dann passieren?"
Ruhig wies der Poet auf das Buch in ihrer Hand.
"Nun, dann kannst du in den Traum eintauchen. Aber du darfst nicht vergessen, dass du dann ein Teil davon bist. Du übernimmst Verantwortung, genau wie in der echten Welt."
Sie stutzte. Was er damit sagen wollte, konnte sie nicht erkennen.
"Was meinen Sie mit echte Welt?"
"Oh, das kannst du mich nicht fragen", erwiderte er und winkte gutmütig ab. "Was die echte Welt ist, musst du selbst entscheiden", sagte er mit einem geheimnisvollen Lächeln. "Für mich ist die echte Welt meine Traumbibliothek. Doch für dich kann es eine ganz andere Welt sein. Dort, wo du zuhause bist."
Zuhause, dachte die Träumerin. Ein fremdes Wort, und doch so vertraut. Sie hatte das Gefühl, sie sollte die Bedeutung dieses Wortes kennen, doch sie erinnerte sich nicht.
Der Poet machte eine einladende Geste und sie verstand es als Angebot, sich weiter umzusehen.
Sie wanderte durch die Traumbibliothek. Jedes Bücherregal schien eine neue Überraschung bereitzuhalten, in jeder Ecke verbargen sich Geheimnisse. Sie wusste, dass niemand die Zeit haben konnte, sie alle zu entdecken. Außer der Poet vielleicht, denn er bewegte sich leichter hier, dies war seine Welt. Er wachte über all die Träume, so stellte sie sich ihn vor.

Etwas erregte ihre Aufmerksamkeit. Im nächsten Regal, um das sich verschlungene Pflanzen rankten, deren Wurzeln man nicht ausmachen konnte, strahlte ein Licht. Als sie näher kam, erkannte sie, dass es eines der Bücher war, das so hell leuchtete. Ein ganz kleines, mit blauem Leder zusammengebunden. Das Licht schien direkt aus den Seiten zu kommen und zog sie in seinen Bann.
Der Poet war ihr gefolgt; sie drehte sich zu ihm um.
"Was ist das?"
Sein Blick schien sich zu verschleiern und in weite Ferne zu schauen. Er wirkte auf einmal abwesend und sie fragte sich, ob er träumte. Ob er träumte, auf eine andere Art.
"Ein Traum", sagte er schließlich. "Ein alter Traum, längst vergangen. Er war einer meiner liebsten."
Sie sah ihn an und erkannte die Schatten in seinem Gesicht. Die Schatten einer Welt, die er selbst erschaffen hatte, doch die vergangen war, verloren in den tiefsten Träumen und in der Zeit.
Eine weitere Frage lag ihr auf den Lippen, doch sie kam nicht dazu, sie auszusprechen.
Ein leichter Hauch strich über ihre Wange. Kühl und unbekannt, aber nicht beängstigend. Sie wandte sich um, konnte jedoch nichts erkennen. Erneut streifte sie ein Luftzug, und jetzt hatte sie das Gefühl, dass es mehr als das war - sie spürte die Anwesenheit einer Person, eines Wesens. Es mochten sogar mehrere sein, sie konnte es nicht sagen. Woher sie kamen und woraus sie bestanden, wusste sie nicht. Nur, dass sie ebenfalls ein Teil dieser Bibliothek waren.
Der Poet hatte es auch gespürt, das sah sie ganz deutlich. Er kannte sich hier aus, auch diese Wesen mussten ihm sicher bekannt sein.
"Geister?", fragte sie.
"Alte Seelen", sagte er. "In ewigen Träumen sind sie gefangen."
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, in einem Traum gefangen zu sein. Alles andere zu vergessen und ein Teil von ihm zu werden. Doch es musste gewiss nicht schön sein.
"Kann man sie befreien?", fragte sie.
Ein leises Sefuzen war die Antwort.
"Nur, wenn man ihre Welt betritt."

Die Träumerin streifte noch ein wenig umher und versuchte, all die Geheimnisse und verborgenen Schätze zu finden, deren Präsenz sie in der Bibliothek spüren konnte. Und doch fühlte sie, dass ihre Zeit langsam zu Ende ging.
"Ich habe eine Frage", sagte sie schließlich. "Sie haben mir gesagt, dass wir in der Traumbibliothek sind. Aber ich sehe kein Tor. Diese Bibliothek hat keinen Eingang. Wie sind wir hierher gekommen?"
Der Poet begann zu schmunzeln.
"Ja, natürlich. Das ist eine wichtige Frage. Wir sind einfach aufgetaucht, nicht war? Ganz plötzlich. Ganz plötzlich waren wir hier."
"Aber wieso? Wie sind wir an diesen Ort gekommen?"
Nun lächelte er.
"Oh, mein liebes Mädchen. Dieser Ort heißt nicht umsonst die Traumbibliothek."
"Und warum heißt sie so?", wollte sie wissen.
Der Poet blickte sie an, als würde er ihr die Lösung eines Rätsels verraten.
"Weil man sie nur in einem Traum beteten kann."
Die Träumerin starrte ihn an. Die Worte, die er gesagt hatte, kamen nur langsam bei ihr an. Gedanken formten sich in ihrem Kopf, und schließlich kam sie zu dem unvermeidbaren Schluss.
"Wir träumen?"
"Du träumst, liebes Kind. Aber jetzt ist es Zeit, aufzuwachen."
Seine Worte erreichten ihr Ohr, und binnen eines Augenblicks verschwand sie, wie sie gekommen war.

Das Mädchen öffnete die Augen. Sie war nicht mehr die Träumerin. Plötzlich hatte sie wieder einen Namen. Und sie hatte auch eine Familie. Und ein Zuhause. All die Erinnerungen gehörten auf einmal wieder ihr. Es war ihre Welt, die Welt, in der sie aufgewachsen war und die sie selbst geformt und verändert hatte.
Sie blickte sich um. Vertraute Umgebung um sie herum, nicht mehr die fremde Welt, die sie betreten hatte.
Zu ihren Füßen lag ein altes, schäbiges Buch mit braunem Einband. Vorsichtig nahm sie es in die Hand und versuchte, den Titel zu lesen. Als sie die verblichenen Buchstaben entziffern konnte, lächelte sie.
Es war das Buch, das der Poet geschrieben hatte; seine Welt, in die sie eingetaucht war.
Die Traumbibliothek.












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Im Grunde ist dieser Oneshot infolge einer Diskussion über Inception entstanden.
Ich habe das Lesen von Büchern mit der Art verglichen, wie Träume dort dargestellt werden. Der Autor ist der Architekt des Traums, er baut praktisch das Grundgerüst aus Worten. Der Leser füllt dieses dann mit Vorstellungen aus seinem eigenen Unterbewusstsein. Wir haben ja alle verschiedene Vorstellungen, auch, wenn wir den selben Text lesen.
Das wollte ich dann in eine Kurzgeschichte verpacken - auch, wenn es ist letzten Endes doch ein wenig anders geworden ist und nicht wirklich etwas mit dem Film zu tun hat.

Falls euch dieser Oneshot ein wenig unklar oder verschwommen vorkommt: Das ist in diesem Fall auch Absicht. Ich wollte es eher ungenau und vage gestalten, wie in einem Traum eben, und habe deswegen auf längere Erklärungen verzichtet.

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