Kapitel 85_Von dir, vor sieben Jahren - Teil 2 / Gegenüberstellung

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Kapitel 85_Von dir vor sieben Jahren - Teil 2 / Gegenüberstellung

Kimura Shatyn war schon da. Er stand ganz in der Nähe des Touristenbüros. Vermutlich wollte er sichergehen, dass Ashdohrn nicht wagen würde, ihn aus dem Hinterhalt zu erschießen, selbst wenn es nicht tödlich war.

Irgendetwas störte Ashdohrn, während er sich Kimura Shatyn aufmerksam näherte. Wahrscheinlich war es sein Lächeln, mit dem er ihm unbesorgt entgegenblickte. Klar, sie durften keine Aufmerksamkeit erregen, aber Ashdohrn war alles andere als begeistert, so zu tun, als wäre er mit Kimura Shatyn befreundet. Es war besser, sich die Erinnerung nicht kaputt zu machen.

Ungefähr drei Meter vor Kimura Shatyn blieb Ashdohrn stehen. Er wollte nicht wagen, ihm auch nur einen Schritt näherzukommen. Ihm war das schwarze Buch in Kimura Shatyns Händen nicht entgangen.

„Hast du Angst?", fragte Kimura Shatyn ruhig, mit monotoner Stimme. Es war weder hämisch noch finster, neugierig oder irgendetwas. Es passte überhaupt nicht zu seiner gefühlsvollen Mimik, die wahrscheinlich nicht mehr als eine Maske war.

„Wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie ihre Fähigkeit nicht griffbereit halten", erklärte Ashdohrn in sachlichem Ton und deutete mit einem Kopfnicken auf das Buch.

„Das ist nicht für einen Angriff gedacht", antwortete Kimura Shatyn sofort und hielt es ein wenig in die Höhe. Jetzt konnte Ashdohrn auch den weißen Handabdruck auf der Vorderseite sehen. „Ich schütze uns vor Zuhörern. Wir wollen doch nicht, dass unser Gespräch belauscht wird, selbst wenn es nur ein einfacher Tourist ist. Und wenn du so weit weg von mir stehst, muss ich ja schon fast schreien." Sein Lächeln erstarb mit dem letzten Satz. Seine Mimik war nun genauso ausdruckslos wie seine Worte, trotzdem glänzte etwas Gefährliches in seinen Augen. Seine ganze Ausstrahlung war so düster und kalt - Ashdohrn würde ihn nur daran erkennen.

„Was wollen Sie?", brachte er es auf den Punkt. Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis das Wolfsrudel, Carag, Kiba, Diago und Kai mit ihrer Arbeit als Ablenkung anfingen. Bis dahin wollte er erfahren, was Kimura Shatyn ihm erzählen würde.

„Ich wollte mich mal wieder mit dir treffen. Ich hab dich vermisst, Ash", antwortete Kimura Shatyn unschuldig.

„Ich vermisse Kim auch", bewusst nutzte Ashdohrn die Präsenzform. Den Mann vor ihm kannte er nicht. Wer auch immer Kimura Shatyn war - er war nicht Kim. „Sie haben ihn getötet, haben Sie das etwa schon vergessen?"

„Du redest zu viel in Metaphern", bemerkte Kimura Shatyn. „Ich bin hier, hier direkt vor dir. Ich lebe."

„Das sehe ich, Kimura Shatyn."

Kimura Shatyns Blick verfinsterte sich. „Du willst mich nur als Feind sehen, was? Ich wollte mich mit dir treffen, damit wir ein wenig reden können - immerhin sehe ich dich noch als Freund. Aber würde ich dir jetzt ein Friedensangebot machen, würdest du es wahrscheinlich eh ablehnen. Warum sollte ich eins machen, überlege ich gerade."

„Sie würden sich selbst nicht daran halten", erklärte Ashdohrn, noch immer ruhig, aber das Buch behielt er die ganze Zeit dabei schon im Augenwinkel. So langsam konnte er sich denken, was Kimura Shatyns Fähigkeit war. „Sie haben recht, ich würde keinem zustimmen - das kann ich als Ratsvorsitzender nicht. Aber wenn sie diesen Krieg auf null setzen wollen, lasse ich mit mir reden."

Das schien tatsächlich Kimura Shatyns Neugier zu wecken. Irgendwie schien er wirklich immer noch das Kind von vor über dreißig Jahren zu sein. Aber Ashdohrn konnte in ihrer Situation kein Spiel sehen. Was Kimura Shatyn tat, war Krieg.

„Du hast Bedingungen", stellte er fest, nachdem er Ashdohrn kurz zu analysieren schien.

Dieser nickte. „Ich nehme an, diese werden wir beide haben."

Kimura Shatyn nickte, eine stumme Aufforderung, weiterzusprechen.

„Ich bin Vorsitzender des Rates des Imvelo und Schulleiter der Imvelo High. Ich muss für die Sicherheit meiner Schüler und Kollegen garantieren. Die mir persönlich wichtigste Bedingung daher ist, dass Sie sämtliche Verfolgungen dieser Personen bedingungslos aufgeben."

Kimura Shatyn seufzte. „B-049. Dein Freund ist eine wirklich harte Nuss." Fast hätte sich ein Grinsen auf Kimura Shatyns Lippen gelegt - aber nur fast. Ashdohrn konnte das Zucken seines Mundwinkels sehen. „Ich will dieses Spiel auf Null setzen, nicht alles. Das mit Ivan war lange davor. Wie geht es ihm eigentlich? Ich habe gehört, er hat seine Schwerster wieder gefunden. Rana, oder?"

Ein beklommenes Gefühl breitete sich in Ashdohrn aus. Wie konnte Kimura Shatyn von Rana wissen? Gab es weitere Spione in der Imvelo High? Er hatte sie Ivan gegenüber tatsächlich ab und an erwähnt - vielleicht hatten es Kryo oder Livai mitbekommen, als sie noch im Auftrag von Kimura Shatyn gearbeitet hatten. Oder ...

Als Ashdohrn nicht antwortete, fuhr Kimura Shatyn fort: „Ich habe auch sie gesucht. Ich dachte mir bereits, dass du Ivan von ihr erzählt hast, wahrscheinlich hätte ich euch beide damit wunderbar erpressen können."

Auf einmal merkte Ashdohrn, wie seine Sicht verschwamm. Die Stimmen um ihn herum, der Touristen, entfernten sich immer weiter, bis sie nicht mehr zu hören waren, das Rauschen des Wasserfalls verstummte, das Gefühl der kühlen, feuchten Luft verschwand. Kimura Shatyns Präsenz verschwand. Das Gefühl des Bodens unter ihm verschwand. Ashdohrn merkte noch, wie sein Körper sich automatisch hinkniete, vermutlich um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Welt um ihn herum wurde schwarz, zerbrach, wie eine ausgepustete Flamme. Ashdohrns Herzschlag verstummte, das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren verstummte, das beklemmende Gefühl, als Kimura Shatyn Rana erwähnt hatte, wurde zu einem fast schon panischen. Nein, nein, nicht jetzt!

Ashdohrn war sich nicht sicher gewesen, ob es eine von Kimura Shatyns Fähigkeiten war, die sich unbemerkt an ihn herangeschlichen hatte. War es nicht.

Es war Ukufa, der Vorbote des Todes, der ihn eingeholt hatte.

Irgendwann kehrte das Donnern des Wasserfalls zurück, die Stimmen um ihn herum, seine Sicht und sein Gefühl. Er hatte sich tatsächlich auf den Boden gekniet, den Blick nach unten gerichtet. Hätte Kimura Shatyn gewollt, hätte er ihn problemlos töten können.

Stattdessen stand er nach wie vor an seinem Platz, schien sich keinen Millimeter bewegt zu haben, musterte nur etwas erstaunt, wie Ashdohrn sich wieder aufrichtete. „Ich wusste gar nicht, dass du Ukufa beherrschst", meinte er mit einem Blick auf sein Buch.

„Was machen Sie da?", fragte Ashdohrn, ohne auf die Aussage seines Gegenübers einzugehen.

„Während deinem kurzen Kollaps habe ich überprüft, welche Fähigkeit da gerade ihre Finger im Spiel hat", antwortete Kimura Shatyn sofort.

„Eine Fähigkeit, mit der Sie andere Fähigkeiten stehlen können und in diesem Buch festhalten", sprach Ashdohrn aus, was er kurz vor Ukufa erkannt hatte.

Scheinbar zufrieden nickte Kimura Shatyn knapp. „Und dir hat Imvelo soeben gesagt, dass bald jemand sterben wird", schlussfolgerte er und begann in seinem Buch zu blättern.

Kimura Shatyn hatte ihn durchschaut. Vermutlich suchte er nach einer Fähigkeit, mit der er Ashdohrn umbringen konnte. Noch hatte sich sein Schwindel nicht ganz gelegt, aus irgendeinem Grund brauchte er immer etwas, bis er das Gleichgewicht vollständig wiederfand. Lag vermutlich an seiner Fähigkeit ‚Raumbrechen'.

„Ich hatte wirklich nicht vorgehabt, zu kämpfen", meinte Kimura Shatyn, fast glaubte Ashdohrn in seiner Stimme einen leichten Hauch von Melancholie zu hören. „Wenn also jemand sterben wird, dann ist das deine Schuld, vergiss das nicht."

Er stoppte mit Blättern und nahm das Buch mit der neuen aufgeschlagenen Seite in nur eine Hand. Eine neue Aura legte sich um ihn, eine Kraftvolle, Angsteinjagende.

„Du kennst doch bestimmt ‚Dunkler Blick', oder?"

Dunkler Blick - eine Fähigkeit, die bei bloßen Blickkontakt Angstzustände und Panikattacken hervorrief. Natürlich kannte Ashdohrn sie, auch, wenn er sie noch nie selbst erlebt hatte. Sonderlich scharf darauf, sie zu erleben, war er trotzdem nicht.

Ausgerechnet jetzt vernahm Ashdohrn einen lauten Knall hinter sich und panische Stimmen. Vertraute Stimmen. Sie riefen etwas von einem Anschlag. Einen falschen Anschlag, den sie selbst taten. Team eins hatte begonnen.

Der Kampf hatte begonnen.

IMVELO || Woodwalkers FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt