2. Kapitel:

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Das Fremde entpuppt sich als Mädchen, denn ihre Gedanken strömen zu mir herüber.
Die Bilder in ihrem Kopf ordnen sich und ihr ganzes Leben spielt sich vor meinem geistigen Auge ab:

Ihr erstes Schreien, ihr erster Geburtstag, ihr Glücksgefühl und ihr Lächeln, da sie genau mit dem überrascht wurde, was sie sich sehnlichst gewünscht hatte.
Ihre missglückten Versuche Fahrrad zu fahren, das blutende Knie, das sie sich deshalb eingefangen hatte, ein kurzer Blick auf ihre Eltern die sie tröstend in den Arm nehmen.
Ihr erster Schultag und ihre Vorfreude, ihre Enttäuschung als sie in den höheren Klassen ihre erste 6 mit nach Hause brachte, unzählige Geschenke die sie glücklich und traurig gemacht haben.
Ihre kindliche Freude als sie sich (endlich) ein Bein gebrochen hatte, auch wenn sie starke Schmerzen hatte und die Langeweile beinahe tödlich war.
Ihr Einzug ins College, sie, wie sie alleine in einer Zimmerecke sitzt, Mädchen die sie auslachen und verspotten. Das kurze Glücklichsein, wenn ihre Eltern sie besuchten, all ihre bestandenen und nicht bestandenen Prüfungen.
Ihre Ängste und die Panik, die die Prüfungen in ihr auslösten und die Erleichterung, wenn sie die Arbeiten hinter sich gebracht hatte.
Ihre erste große Liebe, ihren ersten Kuss und ihren beschleunigten Herzschlag, den Hass und die Enttäuschung als er mit ihr Schluss machte, den Frust, weswegen sie etwas zu viel Schokolade in sich hinein würgte. Ihre beste Freundin die sie anstatt ihrer Eltern mitfühlend in den Arm nahm.
Weitere Glücks- und Trauermomente, den Tod ihres geliebten Vaters. Sie, weinend an seinem Grab. Die Mutter, die sie zu trösten versuchte. Des Mädchens Wut auf Alles und Jeden.
Ihre überforderte Mutter, die sie zu einer Pflegefamilie bringen musste, ihre Einsamkeit und der Spott ihrer Adoptivgeschwister. Ihre vergossenen Tränen, die sie in ihrem kalten und leeren Zimmer verliert.
Dann ebenfalls der Tod ihrer Mutter.
Zusätzlicher Schmerz, ihre anhaltende Einsamkeit, der Moment an dem sie es einfach nicht mehr aushielt und von "zu Hause" flieht um hier her zu kommen, in mein Heim.

Das Geschehene von heute reiht sich an und wieder spielt sich alles vor meinem geistigen Auge ab:
Schon wieder ein nervenaufreibender Streit mit ihrer Adoptivmutter, der ihr jedes Mal an die Nieren geht.
Obwohl sie wütend ist und am liebsten irgendetwas kurz und klein schlagen will zieht sie sich schmollend in ihr Zimmer zurück, jedoch wird es ihr nach einiger Zeit zu stickig, sie bekommt kaum Luft.
Als es dunkel genug geworden ist, um sicher zu sein, dass ihre "Familie" endlich schläft, schleicht sie sich aus ihrem Zimmer und schließt leise alle Türen hinter sich. Als sie endlich draußen steht atmet sie tief durch und genießt die Kühle der Nacht, streckt dem Haus die Zunge raus und rennt so schnell und so weit sie kann, um möglichst weit weg zu kommen.
Kurz bleibt sie stehen und schreit mit einem Gefühl tiefster Befriedigung: "Nie werden ich zu euch zurückkommen! Hört ihr mich?! Nie wieder!", um sich dann wieder umzudrehen und weiter zu rennen.

Ihr Zeitgefühl ist nach längerem Laufen und Seitenstechen völlig weg getreten. Es ist kalt und viel zu dunkel um länger im Freien bleiben zu können. Zu allem Überfluss vernimmt sie ein Geräusch, das sie zusammenzucken lässt: Es knackt.
Woher kommt dieses Geräusch? Wilde Tiere? Unsicher und die Arme vor der Brust verschränkt, um sich selbst etwas Wärme zu spenden, geht sie weiter.
Ihr Bauchgefühl sendet warnende Signale.
Kurz bedauert sie, dass sie die schützende Wohnung verlassen hat, dann jedoch schüttelt sie den Kopf und geht weiter, während sie die Gedanken an Gefahr und Wärme einer Wohnung zu verdrängen versucht.
Wieder ein Knacken.
Erschrocken bleibt sie stehen und schaut sich unsicher um.
Das Knacken kam ganz aus der Nähe!
Ein einziger Gedanke breitet sich in ihr aus:
"Ich werde verfolgt!"
Um so schnell wie möglich in Sicherheit zu kommen nimmt sie die Beine in die Hand und versucht den Schatten zu entkommen, die sie die ganze Zeit verfolgen.
Es ist nur ihr eigener Schatten der ihr auf Schritt und Tritt auf den Fersen ist, das hat aber keine Bedeutung. Wir wissen alle das Kreaturen der Nacht trickreiche Jäger sind und sich keine Beute entgehen lassen. Sie ahnt nicht in welcher Gefahr sie schwebt, denn wie sagt man so schön?: "Der Schein trügt."
Ohne es zu wissen hängt das Mädchen ihre Verfolger ab und begibt sich gleich in die nächste Gefahr, aber auch davon ahnt sie nichts.
Sie ist völlig ahnungslos...
Ein von Mondlicht beschienenes Haus, etwas alt und baufällig, scheint ihr durchaus als Schutz vor dem schlechten Wetter dienen zu können.
Erleichtert stößt sie die schweren Türen auf und flüchtet sich in das Innere eines ganz bestimmten zu Hauses, ohne zu ahnen, dass sie bald den Hausherren kennenlernen wird.

Erleichtert stößt sie die schweren Türen auf und flüchtet sich in das Innere eines ganz bestimmten zu Hauses, ohne zu ahnen, dass sie bald den Hausherren kennenlernen wird

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Überwältigt von all der Offenheit und den vielen intensiven Gefühlen, die ich in ihr wahrgenommen habe, bin ich wie erstarrt. Mein Geist, der dank der Macht schnell und unbeirrbar geworden ist, versucht das Gesehene zu verarbeiten, aber es ist zu viel und die Menschlichkeit in ihren Gedanken ist unbegreiflich für meine tote Seele.
Ein Lied klingt an mein Ohr.
Leise und schüchtern ist es, besteht nur aus Klängen und Melodie, nicht jedoch aus einem einzigen Wort. Wahrscheinlich will sie sich Mut machen und die Einsamkeit vertreiben, die in diesen Gemäuern herrscht.
Doch hier ist das Wesen nicht traurig, fühlt sich sogar teilweise geborgen...
Ich bemerke gar nicht, dass sie nicht mehr an der selben Stelle steht. Schnell vergewissere ich mich, ob sie in meiner Nähe ist.
Nein, das zum Glück nicht.
Sie erkundet immer noch das Foyer. Der Dreck und der Staub scheinen ihr nichts auszumachen, denn wenn sie beispielsweise etwas Glänzendes sieht gräbt sie es aus, befreit es von seinem "Schutzpanzer" und beäugt es bewundernd.
Die Schätze haben mich nie interessiert, bemerkt habe ich sie kaum. Die meisten habe ich sowieso während meiner Anfälle zerstört. Doch sie, sie interessiert sich dafür, nimmt sie mit Kennerblick unter die Lupe und schenkt diesen wertlosen Gegenständen eine Bedeutung.
Würde sie auch mir eine Bedeutung geben?
Schluss mit dieser Träumerei! Warum sollte sie das tun? Ich bin ein Monster! Eine Kreatur die das Geschöpf mit einer verwerflichen Leidenschaft töten würde und ihr blutiges Spiel mit diesem zärtlichen Wesen spielen würde.

Bei dem Mädchen ist die vorherherrschende Neugier und Geborgenheit verflogen. Weinend und von Schluchzern geschüttelt sinkt sie auf die Knie und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
Etwas regt sich in mir, ich kann nicht erklären was, aber es drängt mich, genau wie die Macht, zu handeln, nur dass es einen anderen Hintergrund hat.
Es ist etwas Instinktives, etwas, das tief in meinem Inneren verwurzelt ist.
Geschwind springe ich ein weiteres Mal vom Balkon, lande leichtfüßig im Foyer und flüchte wieder in die sichere Ecke.
Silberne Tränen laufen ihr unablässig über die Wangen, voller Hilflosigkeit zucken ihre Schultern...
Ohne es zu bemerken mache ich Schritte in ihre Richtung. Ein Kieselstein, den ich ausversehen angestoßen habe, verrät meine Anwesenheit. Wütend schaut sie in meine Richtung, gefährlich funkeln ihre Augen und sie schreit:
„Lasst mich doch endlich in Ruhe! Was wollt ihr noch von mir?! Nie werdet ihr mich wieder zurückholen! Gebt endlich auf!"
Ich weiß nicht was ich tun soll, weiß nicht wie ich reagieren soll. Mein Hals kratzt, ein undeutlicher Laut dringt aus meiner Kehle. Wie lange habe ich schon nicht mehr gesprochen? Gewiss eine Ewigkeit…
Mit geballten Fäusten steht sie auf und stakst in Richtung Ecke. Ich fühle ihre Anspannung und ihre Angst. Wieder versuche ich etwas zu sagen, sie zu beruhigen, ihr irgendwie zu helfen.
Aber wie?
Sie ist schon ganz nah, nur wenige Schritte und sie würde mich sehen, würde sehen was ich bin.
Das kann ich nicht zulassen!
Aber fliehen kann ich auch nicht mehr! Die Macht! NEIN! Das darf nicht passieren! Sie rührt sich, vibriert durch meinen Körper, lässt die Kraft durch mich strömen und meine Muskeln anschwellen. Meine Hände ballen sich zu Fäusten, meine Nägel bohren sich tief in die Handflächen. Geschockt schaue ich an mir herunter, während in mir Panik emporsteigt.
Brüllend sprinte ich aus der Ecke, stoße das Mädchen so heftig auf den Boden dass sie ohnmächtig wird.
Zu allem Überfluss hat sie jetzt eine blutende Platzwunde am Hinterkopf.
Wie versteinert bleibe ich stehen, bin kurz davor die Beherrschung zu verlieren.
Alles dreht sich.
Weiterhin brüllend und haareraufend falle ich auf die Knie.
All die Jahrhunderte umsonst!
Am liebsten würde ich weinen wie ein dummer verweichlichter Mensch, aber ich kann nichts tun um all das Chaos zu lindern, rein gar nichts.
Zitternd liege ich am Boden, meine Augen verdrehen sich nach oben und mein Mund verzieht sich zu einer gequälten Grimasse.
Sie rührt sich kurz, es ist nur ein leichtes Zucken ihres Arms.
Trotz meines innerlichen Leids kann ich ihren Schmerz spüren. Plötzlich breitet sich in mir ein Gefühl des Verstandenseins aus, ein Gefühl, das anfängt die Macht zu betäuben um mir endlich die heißersehnte Trance zu ermöglichen.

Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt