6. Kapitel:

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Irgendetwas scheint sie nervös zu machen. Sie ist noch unkonzentrierter als vorhin. Schleichende Panik macht sich bei ihr bemerkbar.
Ich kann nicht anders als völlig fasziniert von ihr zu sein.
Sie ist so unbefangen, so natürlich und so frei. Sie wird nie erfahren wie es ist so zu leiden wie ich, niemals in ihrem Leben. Ich wäre als Mensch höchstwahrscheinlich neidisch oder eifersüchtig gewesen, jetzt ist es mir relativ egal, obwohl ich aus irgendeinem Grund froh darüber bin dass sie NIE so ein Leben wie ich fristen muss.
Wir stehen uns immer noch gegenüber, starren uns weiterhin an und sie verlassen mehr und mehr die Kräfte.
Heute ist Vollmond..., die Zeit wo sich eine ganze Horde Vampire versammeln um die größte Beute aller Zeiten zu reißen. Jedoch sind sie nicht die einzigen Jäger, es gibt andere die die Stadt zu ihrem Jagdgebiet erklärt haben. Mein Instinkt treibt mich dabei zu sein, aber ich würde mich nur unnötig in Gefahr bringen. Hunger habe ich sowieso schon lange nicht mehr, die Gewohnheit hat ihn abgestumpft. Das Kind hingegen kann sich kaum noch auf den Beinen halten.
Meine Artgenossen sind ganz in der Nähe..., durchstreifen höchstwahrscheinlich auf der Suche nach Beute das Gebiet rund um mein Versteck. Beute..., das Mädchen könnte leichte Beute sein! Sie ist viel zu schwach um sich in Sicherheit zu bringen. Auch für mich könnte sie Beute sein, ihr Blut könnte mich nähren und das Monster zurückholen. Das wird aber nie passieren! Nie! Den Schwur den ich mir selbst geschworen habe werde ich niemals brechen!
Ihre Beine haben längst nachgegeben. Sie kniet vor mir auf dem Boden, stützt sich mit den Händen ab und lässt den Kopf hängen. Wie auf Befehl dreht sie ihr Gesicht in Richtung Tür und präsentiert mir ihren entblößten Hals. Das Mädchen hört die Rufe der Jäger, will ihnen nachgeben und ist kurz davor auf wackeligen Beinen den Rufen zu folgen. Die Rufe sind laut und lockend und lassen auch mich nicht unberührt..., genauso wie jeden Vollmond, da ist die Macht am stärksten und es ist umso schwerer dem allen zu widerstehen, es wird immer schwerer...
So war es aber nicht immer. Einst war ich ebenfalls ein freier Mensch. Wie in einer riesigen Seifenblase gefangen wabern Bilder meiner Vergangenheit in meinem Kopf, zeigen verschwommene Ausschnitte und sehr selten sind sie ruhig und genau sichtbar. Meinen Namen oder andere Namen aus meiner Vergangenheit habe ich schon längst vergessen, jedoch nicht vollständig das Aussehen meiner Eltern oder meiner Freunde. Der Fluch versucht all das zu töten, sodass es für immer verbannt und vergessen ist. Lange Zeit war es auch so, erst das Mädchen mit all ihren Erinnerungen konnte diese Leere auffüllen. Aber warum ausgerechnet sie? Stopp! Nicht nachdenken! Erinnerungen schmerzen, sind Gift und pure Qual. Sie muss hier weg! Das Mädchen muss hier weg! Aber wohin? Was wird mit ihr passieren wenn ich es zulasse das sie hier weg geht, raus zu den Anderen? Sie würde qualvoll sterben oder müsste sich dem ewigen Fluch beugen. Was kümmert mich das?! Warum musste sie ausgerechnet hierher kommen?!
Eine unausweichliche Gewissheit lässt mich innehalten: Sie haben sie gefunden. Haben mich gefunden.
Meine Artgenossen dringen in meine Gedanken, zwingen mich ihnen das Mädchen zu geben, stürzen alle auf mich ein und zerstören meine Barriere um mich empfänglich für die Macht zu machen. Brüllend versuche ich mich zu wehren, jedoch gibt es nichts mehr an dem ich mich festhalten könnte, keine verbliebene Erinnerung, nur noch den bodenlosen Abgrund in den ich stürze, nur noch das Höllentier das die ganze Zeit auf mich gewartet hat...  Sie stehen nun vor meinem Versteck, umzingeln es und nehmen mir die Möglichkeit zur Flucht. Ich kann sie sehen, sehe sie in meinen Gedanken und höre ihre Stimmen. Es macht mich wahnsinnig! Was wollen sie?! Warum lassen sie mich nicht endlich in Ruhe?! Alle sind sie da, alle. Zu viele! Viel zu viele! Weder mein Körper noch mein Geist gehorchen mir noch, ich habe keine Kontrolle mehr. Ich bin lahmgelegt, kann weder das Mädchen noch mich beschützen. Wir sind ihnen ausgeliefert. Sie haben mich. Endlich haben sie mich und ich muss mich nie wieder verstecken.
Sie haben mich, ich habe versagt.

Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt