5. Kapitel: (Das Mädchen)

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Ich kann mich nicht bewegen, starre diesem merkwürdigen Jungen einfach nur in die Augen. Es ist unheimlich. Er rührt sich nicht, zeigt immer noch keine sichtbare Atmung und steht mir trotzdem gegenüber. Die fremdartige Angst kehrt schlagartig zurück, genauso wie der kalte Schweiß und die Schauer, die mir den Rücken hinunter laufen.
Ich merke wie ich langsam müde werde, wie sich mein Magen grummelnd beschwert, weil ich seit Stunden nichts mehr gegessen habe und wie mich allmählich die Kräfte verlassen...  Auch das scheint er bei sich nicht wahrzunehmen, als wären alle Bedürfnisse, die ich habe, für ihn eine Nichtigkeit. Als müsse er all das nicht tun, was mich am Leben hält.
Faszinierend...
Irgendwie ist alles an ihm faszinierend und beängstigend zugleich. Seine Ausstrahlung, sein fremdartiges Aussehen..., einfach alles.
Ob ich ihm trauen kann?
Bis jetzt hat er mir nichts getan, aber das könnte sich plötzlich ändern. Ich muss vorsichtig sein, denn im Moment fühle ich mich von ihm beobachtet wie eine Beute die von ihrem Jäger genauestens analysiert und ins Visier genommen wird.
Schon allein das bringt die Kälte zurück, diese allumfassende, bedrohliche Kälte...
Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren oder mich verhalten soll. Ich darf auf keinen Fall eine falsche Bewegung machen, sonst fällt er mich an und reißt mich in Stücke! Na ja, zumindest tut er das in meiner Fantasie...
Meine Gedanken rasen, ich bin nicht in der Lage einen kühlen Kopf zu bewahren. Er hingegen starrt mich weiterhin seelenruhig an. Genau das ist es, was ihn so furchterregend macht. Diese unerschütterliche, mir völlig ungekannte Ruhe, die er nie zu verlieren scheint. Ich hingegen bin unruhig und zappelig, also genau das Gegenteil. Er gibt mir das Gefühl klein wie ein Käfer zu sein, den er mit Leichtigkeit zerquetschen kann. Er dagegen wirkt riesengroß und majestätisch, obwohl er nur ein leichenhafter Junge ist, der nicht älter und größer als ich erscheint.
Wie alt mag er sein?
Seiner Statur nach ist er ein magerer 16-jähriger Junge, aber in seinen Augen spiegeln sich Jahrhunderte. Sie zeigen große Weisheit, jedoch auch grenzenlose Trauer und unvorstellbare Qualen.
Genau vor diesem Wissen habe ich solche Angst.
Es scheint als würde er aus mir lesen wie aus einem offenen Buch, als könne er meine Gedanken sehen und mein Leben wie einen Film anschauen. Schon beim ersten Blick in seine schwarzen Augen wusste ich, dass ich nichts vor ihm geheim halten kann, einfach nichts. Er durchdringt mühelos alle meine Schutzschilde und die Maske, die jeder Mensch für gewöhnlich trägt, um genau das zu verbergen: seine schmutzigsten, intimsten und privatesten Geheimnisse. Ich hingegen kann bei ihm nichts lesen, geschweige denn seine Gedanken sehen oder sonst was.
Dadurch fühle ich mich klein und verletzbar.

Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt