53. Kapitel: (Likonell)

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Völlig irritiert und orientierungslos wandere ich durch den Wald, höre nicht auf die Stimme meiner Gebieterin, die mich zurück ruft, und versuche dieses mir unerklärliche Phänomen, das Mädchen trotz meiner neuen Eiseskälte gewärmt zu haben, zu verarbeiten.
Außerdem sind wir uns viel zu nah gekommen.
Doch sie lässt mir keine Zeit mir weitere Gedanken über diese Kuriosität machen zu können, da sie in meine Richtung schwankt, da sie mir anscheinend irgendwie gefolgt ist.
Ohne Vorwarnung fällt sie mir völlig aufgelöst in meine Arme.
Total überfordert halte ich sie fest, damit ihre immer noch schwachen Beine nicht einklappen und sie womöglich hinfällt. Auch wenn sie schon einmal (absichtlich) in meine Arme gefallen ist, ist diese Situation richtig befremdlich, wie sie da an mir hängt, ihr Gesicht an meine Schulter presst und somit meinen dreckigen, grauen Pulli durchnässt.
Vorsichtig und unbeholfen lege ich beide Hände auf ihren Rücken, fixiere sie mit der linken am unteren Teil und streichle den Rest zögerlich mit der rechten.
Mein Gesichtsausdruck ist ganz bestimmt eine Mischung aus kompletter Verwunderung, Misstrauen und Gleichgültigkeit, was sicherlich total lächerlich aussieht...
Zum Glück sieht sie es nicht...
Als sie so schwach und psychisch verletzt an mir hängt, breitet sich in mir ein festentschlossener Beschützerinstinkt aus, während ich schwöre den Verursacher umzubringen, wer auch immer es ist.
Wimmernd und schluchzend zittert sie erbärmlich und kann mir nicht einmal erklären, WAS sie so erschreckt haben könnte.
Ich habe keine Ahnung was passiert ist.
Gleichzeitig kommen Schuldgefühle in mir hoch, da es ihr sicherlich nicht ganz so schlecht gegangen wäre, wenn ich sie beschützt hätte.
Also bin ich auch wütend auf mich selbst.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stammelt sie:
"Vampir, Tod..."
Obwohl ich jetzt in meiner "menschlichen" Gestalt bin, dringt ein tiefes Knurren aus meiner Brust. Also war es einer aus meiner angeblich neuen "Familie", der sie so zugerichtet hat!
Dann passiert es: Gedanken kommen hoch, die ich auf keinen Fall mehr will, denn sie handeln von dem Wunsch, das Mädchen tot oder verwundet zu sehen, was ja jetzt auf eine bestimmte Art und Weise der Fall ist.
Aber das bin ich nicht mehr!
Ich bin jetzt anders, wieder mehr menschlich und anstatt ihr wehzutun habe ich sie liebevoll umsorgt und ihr geholfen wieder zu laufen!
Ich bin gut!
Doch genau das scheint meiner Gebieterin nun ganz und gar nicht zu gefallen: im Unterholz knirscht und knackt es, ab und zu hört man ein Hecheln.
Die Wölfe sind da.
Da ich trotz allem ein Teil dieses Rudels bin sehe ich einen kleinen  Ausschnitt der Situation, die kurz vor Beginn der Jagd stattgefunden hat:

Der Aggressionspegel der Wölfe steigt. Überall werden die Lefzen hochgezogen, bösartiges Knurren erfüllt die Luft, denn es ist klar dass es bald zu einer wichtigen Verfolgung kommen wird.
Dann erklingt dieses Heulen.
Die Pupillen der Wölfe weiten sich, alle Nasen strecken sich in die Luft, alle Körper sind angespannt. Meine Gebieterin in Wolfsgestalt heult wieder und schlägt die Mitglieder des Rudels in ihren Bann. Keiner kann sich dem entziehen und die Hetze beginnt...

Als ich wieder aus dieser Vision entlassen werde verwandle ich mich schnell und schubse das Mädchen vorsichtig aber bestimmt in den Schnee. Dann geht alles viel zu schnell: sie stürzen aus dem Gebüsch, beißen mich in den Schwanz und in die Ohren, belagern mich, gleichzeitig schnappen sich "richtige" Vampire das hilflose Kind, vereinen sich mit ihr mit der Nacht und verschwinden vor meinen Augen. Wütend und erschreckt schreie ich auf, denn ich kann nichts tun um sie aufzuhalten oder das Mädchen wenigstens dieses Mal zu beschützen.
Immer noch versucht mich der Rest der Meute auf dem Boden zu halten, doch ich bin stärker als sie und tue das Einzige, was mir jetzt möglich ist: rennen so schnell ich kann.
Unwirkliches Heulen, Jaulen und Bellen strömt sofort von beiden Seiten auf mich ein.
Voll Adrenalin renne ich in Höchstgeschwindigkeit vor meinen Angreifern davon, während sie mich in erregter Jagd durch den dunklen, schwarzen Wald hetzen.
Ab und zu bekomme ich Bisse ab, jedoch versuchen sie nur mich von meinem Weg abzulenken, mich im Zickzack irgendwohin zu treiben und zu verhindern, dass ich aufhöre Schnee und Eis zu meiner "Verteidigung" einzusetzen.
Sonst wehre ich mich nicht.
Viele Wunden zieren meinen drahtigen Leib, denn mein Eispanzer kann mich nicht gänzlich vor den bösartigen Zähnen der Vampirwerwölfe schützen.
Doch die Wunden verheilen in Sekunden.
Ich werde immer und immer schneller, denn irgendwo da draußen ist das Mädchen, vermutlich verletzt oder geknebelt, vielleicht wird sie auch gequält!
Knurrend und ab und zu schnappend setze ich meinen Weg fort und tatsächlich: kurz vor der Lichtung, die ich trotz dieser "Spielchen" ohne Probleme gefunden habe, wartet eine Falle auf mich: breitbeinig, mit gesenktem Kopf und nach oben gezogenen Lefzen steht er da, der einzige mit grauen, vereinzelten Flecken im Fell. Ich weiß, dass er stark ist, stärker als die anderen, und doch habe ich keine andere Wahl: heftig knurrend bleibe ich stehen. Die anderen Wölfe halten Abstand, denn sie wissen, dass dies ein Kampf zwischen mir und ihm ist, auch wenn ich nicht genau weiß, ob ich ihn aus meinem früheren Leben gekannt habe. Wir beide umkreisen uns, halten uns stets im Blick und drohen uns mit Stimme und Gebärden.
Er wird über mein Überleben oder meinen Tod entscheiden.
Dann höre ich sie: aus voller Kehle schreiend und tränenüberströmt versucht sie sich von dem Baum zu befreiend, an den sie gefesselt wurde.
Ich bin nur für einen Moment abgelenkt.
Ein brennender Schmerz fährt durch meine Schulter, in der jetzt ein schwarzes, tiefes Loch klafft. Fauchend nehme ich es zur Kenntnis und verpasse meinem Gegenüber kurzblutende Kratzer auf der Stirn.
Wir sind beide rasend.
Um mich nur noch mehr zu provozieren nähert sich die Meute in Anpirschposition dem gefesselten Kind. Um Zeit zugewinnen ramme ich meine Krallen in eines der Augen meines Gegners und hinterlasse bei einigen anderen weitere Wunden.
Doch ich bin nicht schnell genug.
Kaum das ich mich's verseh hat mein Feind mein Bein zwischen seinen Reißzähnen und zerbricht den Knochen in tausend Teilchen.
Voll Schmerz, den ich trotz meiner Veränderung anscheinend doch noch empfinden kann, heule ich auf und meine Brust sinkt kurz auf den Boden, doch in der gleichen Sekunde rappele ich mich wieder auf und zeige drohend meine Zähne.
Trotzdem bin ich geschwächt. Unheilbar.
Das Mädchen schreit und wimmert, tritt und zappelt, doch es hilft nichts. Sie kommt nicht frei, kann sich nicht wehren, genauso wie ich.
Da ich weiß, dass ohne Bluffen unser beider Überleben sehr sehr unwahrscheinlich ist, deute ich an, ihm an die Kehle gehen zu wollen und da er wie erwartet seinen Kopf senkt, um seine verwundbarste Stelle zu schützen, habe ich genug Zeit, um mich blitzschnell umzudrehen und die Fesseln meiner Geliebten zu zerreißen.
Überrascht fällt sie auf die Knie.
Doch für mich ist es zu spät, denn er macht keine Andeutung: schmerzfreier als ich dachte graben sich seine Zähne jetzt tief in meine Kehle, reißen einmal kräftig daran und zerstören sie.
Ein roter Fluss tränkt den weißen Schnee...

Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt