Trotz meiner neuen Stärke und meiner unerschütterlichen Entschlossenheit hat mich diese Erkenntnis alle meine Kraft gekostet.
Wie in einer Ohnmacht liege ich ganz ruhig und still da und lausche den gleichmäßigen Atemzügen des immer noch schlafenden Mädchens.
Umso erschrocken bin ich als mich eine eiskalte und irgendwie warme Hand an der Schulter berührt und öffne meine verklebten Augen. Da ich zuerst nur verschwommen sehe, denke ich, dass es das Mädchen ist, doch nachdem sich mein Blick klart ist diese Gestalt eindeutig NICHT das Mädchen.
Blinzelnd registriere ich, wer da vor mir steht: Das bin ich. Ich als Mensch. Als ganz normaler 16. jähriger Junge mit hautfarbener, heller Haut ohne irgendeine Art von Leichenblässe und Blut durchströmtem Körper. Das halblange Haar dieser Erscheinung ist zwar ebenfalls schwarz mit roten Spitzen, aber dessen Augen, die so mitfühlend, verständnisvoll und entschlossen drein blicken, haben die Farbe von warmen braun. Sein blass-roter Mund lächelt mich freundlich an. Sofort habe ich Respekt vor ihm, mehr als ich ihn je vor dem Oberhaupt hatte und spüre unerschütterliches Vertrauen.
Mit einem Anflug von Bedauern und Traurigkeit denke ich mir ob ich wirklich je so ein Mensch geworden wäre wie er vor mir steht. Das Lächeln, dass so anders ist als die Fratze der Macht, verschwindet nicht als mein Gegenüber zu sprechen beginnt: "Es braucht viel um sich selbst so zu akzeptieren wie man jetzt ist. Man muss an sich arbeiten und sich nicht davon unterkriegen lassen wenn man nicht so ist wie man es gerne hätte. Aber man kann es ändern. Zusätzlich sollte man sich nicht von anderen zerstören lassen, selbst wenn es unvermeidbar scheint und Hass, Verrat und Dunkelheit dein Herz zerfressen."
Ein Ausdruck wohlbekannten Schmerzes vermischt sich mit der Ruhe und der Freundlichkeit, die sein Gesicht erleuchten.
"Du kannst nicht verstehen was ich jetzt sage, aber lasse nie die Wut über Lügen über dich herrschen und werde zu dem hellen Licht, das du werden kannst." Wie eine Mutter streicht er mir zärtlich die Haare aus der Stirn und verschwindet.
Diese kurze Berührung hat etwas totgeglaubtes in mir wach gerufen, denn wie der sachte Schein einer Kerze breitet sich Wärme und Glück in mir aus, die jeden Funken Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit bis in meine allererste, für mich nicht mehr existierende, Kindheitserinnerung in Sonnenstrahlen verwandeln und alle Schatten, alles finstere und schwarze von mir nehmen. Ich kann endlich Frieden damit schließen und meine Vergangenheit hinter mir lassen.
Von Glücksgefühlen beschwingt springe ich auf, genieße diese Schmerzfreiheit und wecke das Mädchen zärtlich auf. Erst erschrocken, dann überrascht flüstert sie: "Du strahlst ja." Mein Lächeln scheint ansteckend zu sein, denn bald sieht sie genauso glücklich aus wie ich mich fühle. Obwohl mein Kiefer und meine Wangenknochen von der ungewohnten Mimik wehtun, müssen wir beide voller Heiterkeit anfangen zu lachen und dann passiert etwas, dass ich niemals, NIEMALS, erwartet hätte: Wie in meinem Albtraum, an den ich mich wieder sehr deutlich erinnern kann, wie alles nach meiner Verwandlung zum Vampir, nimmt sie mein Gesicht in ihre Hände und küsst mich voller Zärtlichkeit und Liebe. Zwar bin ich anfangs viel zu verblüfft um darauf zu reagieren, aber dann, dann sprudeln alle positiven und glücklichen Gefühle aus mir heraus und übertragen sich auf meine Lippen. Stürmischer, immer stürmischer küssen wir uns.
Schwer atmend löst sie sich von mir. Umso mehr wünsche ich mir, dass ich ihr ebenfalls durch eine (menschliche) Regung zeigen kann wie großartig und besonders dies alles für mich ist, aber nichts deutet daraufhin, denn mein Gesicht und meine Augen zeigen die übliche Gleichgültigkeit und Langeweile. Heftiger als gewollt versuche ich sie mit Worten davon zu überzeugen, jedoch ist meine Stimme neutral wie eh und je. "Klar." Bemüht ihre Enttäuschung vor mir zu verbergen (was ihr nie gelingen wird) dreht sie sich weg. Trotz allem kann ich ihre abklingende Überraschung und Verblüffung über sich selbst wahrnehmen, die ich auch bei mir spüren kann. Erleichtert lasse ich meine verkrampften Schultern fallen. Unverblümt kribbeln meine Lippen. Rau und leise wie immer lasse ich meine Stimme erklingen: "Ich kann mich erinnern. Zwar immer noch nicht an meine Zeit als Mensch, aber das ist egal, das ist schon längst Vergangenheit. Aber was zählt ist, dass du von Anfang an recht hattest... Also mit allem was die Macht betrifft." Rechtfertigungen sind hier fehl am Platz, weshalb es nicht wert ist hervorzuheben, dass ich unter ihrem Bann stand und sie wie eine Göttin verehrt hatte.
"Ist schon gut." Schüchtern lächelt mich das Mädchen an. "Du weißt ja, vor dir hatte ich nie Angst." Flüsternd fügt sie hinzu: "Nur vor ihr." Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass wir beide wissen, dass das nicht ganz stimmt, denn bei unserer ersten Begegnung, als ich wie tot vor ihr lag, "wieder auferstanden" bin, sie zu Boden gestoßen und ihr letztendlich das Handgelenk gebrochen habe, hielt sie ganz bestimmt mich höchstpersönlich für das Monster. Verübeln kann ich es ihr nicht. Dazu kommt, dass ich bestimmt ziemlich furchterregend aussehe. Gesehen habe ich mich schon Ewigkeiten nicht mehr, deswegen kann ich das nur vermuten.
Ohne zu überlegen platzt: "Es tut mir leid, dass du das...Chaos in meinem ehemaligen Versteck miterleben musstest. Das wollte ich nicht und hätte nie zulassen können, dass du zu Asche wirst. Und das mit deiner Hand...", aus mir heraus. Meine Stimme bricht, denn die Albtraumversion davon blitzt in meinem Geist auf, die mir die Macht geschickt hat um mich zu brechen. Scham und Wut darüber, dass sie es tatsächlich geschaffen hatte steigen in mir auf. Beruhigend legt das Mädchen mir die Hand auf den Arm: "Ich weiß zwar nicht was genau du denkst, aber lasse es dich nicht zerstören." Sofort wird mir klar, dass sie die Worte meines Ebenbildes auf ihre Art wiederholt. Umso entschlossener denke ich mir: "Nein, diese Zeiten sind vorbei."
Plötzlich überkommt mich der Drang sie zu beschützen und zu beruhigen. Mit fester Stimme, deutlicher als gewöhnlich, sage ich: "Sie ist nicht länger ein Teil von mir. Jetzt bin ich mein eigener Herr. Doch der Kampf ist nicht vorbei. Niemand hat gesiegt oder verloren." Mit ernstem Gesicht und leuchtenden Augen haucht das Kind: "Eines hast du bereits gewonnen... Mein Herz. Schon von Anfang an als ich dich das erste Mal sah. In deinem Blick nahm ich nur die Dunkelheit des Fluches, der dich am Leben hält, wahr, doch jetzt sehe ich mehr Gültigkeit und Wärme als je ein Mensch sie haben wird." Kurz versagte ihr die Stimme, doch schnell fasste sie sich wieder: "Ich liebe dich."
Angst und Schmerz lassen mich zusammenzucken. "Das darfst dich meinetwegen nicht in Gefahr bringen." Stumm gestehe ich mir ein, dass ich das nicht ertragen könnte, zeige es aber nicht.
Gekränkt blitzt sie mich an, doch ich rede ungerührt weiter: "Du bist nur ein Mensch und ihr nicht gewachsen." Verständlicherweise wird sie wütend und wirft mir: "Anstatt mir zu sagen, dass du mich auch liebst bezeichnest du mich als schwach?!", an den Kopf. Bissig fügt sie hinzu: "Ich bin ernsthaft am Zweifeln ob du überhaupt..." Enttäuscht lässt sie den Kopf hängen. Mit monotoner Stimme vollende ich ihren Satz: "Ob ich überhaupt lieben kann. Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich auf ewig tot und mein Herz zum Schweigen gebracht." Kühl, um meine eigenen Gefühle im Keim zu ersticken, rede ich weiter: "Tu dir das nicht an. Wenn doch wirst du auf Pfade geführt die dich vernichten. Schau mich an. Ich werde nicht zulassen, dass sowas aus dir wird."
Bestürzt mustert sie mich genauer und scheint mich erst jetzt klar und deutlich zu sehen: Meinen unnatürlich dünnen und gleichzeitig muskulösen Körper, mein blasses, eingefallenes, kantiges Gesicht mit den blutunterlaufenen, kalten Augen und den zu sichtbaren Wangenknochen. Auf meinen aufgerissenen, blutleeren Lippen verharrt sie einige Augenblicke und wandert dann weiter zu meiner von schwarzen Haaren bedeckten Stirn. Sie fragt nicht wie ich zu der Narbe an meinem rechten Auge oder zu den blutroten Spitzen meiner Haare kam. Im Übrigen scheint es so als hätte sie ihre Stimme verloren. Doch dann sagt sie: "Ich will dich nicht verlieren." "Das hast mich schon längst verloren. Vom ersten Augenblick an als die Macht meine Seele vergiftet hat. Du kannst mich nicht retten. Das kann keiner. Aber du kannst dich retten und somit den letzten Teil der von mir übriggeblieben ist. Beschütze du deine Seele und kümmere dich nicht um mich."
Mit von Tränen verschleiertem Blick sinkt sie schluchzend vor mir zu Boden. Beschützend drücke ich sie ganz fest an mich. Zärtlich streichle ich ihr Gesicht mit dieser entzückenden Stupsnase und lege ihr dann meine Hand an die Wange. "Du schaffst das." Ohne ein Wort legt sie ihr verweintes Gesicht an meine Schulter und somit auf meine verschmutzte, zerschlissene Lederjacke. "Ich schwöre dir, dass..." Auf mich selber wütend zwinge ich mich das Ende dieses Satzes nie auszusprechen und beende somit den Versuch leere, nicht einhaltbare Versprechen zu geben. "Ich kann dich nicht beschützen, egal wie sehr ich es mir wünsche. Das kannst nur du. Das einzige was ich tun könnte wäre Rache nehmen. Und das werde ich gewissen wenn sie dir etwas antun würde"...nur um mich zu verletzen. Meine Gefühle für dieses wunderschöne Geschöpf werden definitiv einer der Hauptgründe sein, wenn ich tatsächlich fallen und somit scheitern sollte. Sie trägt keine Schuld daran, denn im Gegenteil habe ich ihr sehr viel zu verdanken, wie auch das ich mein Dasein Leben nennen kann. Vermutlich werde ich nie wettmachen können was sie mir (zurück)gegeben hat.
Als hätte ich dies alles laut ausgesprochene hebt sie den Kopf und schaut mir voller Furcht, Sorge, Zuneigung und Liebe in die Augen. Zärtlich und sacht legt sie ihre Hand auf mein Ohr und meine Wange. Ich tue das gleiche, nur etwas weiter unten. Langsam näher wir uns und schließen instinktiv die Augen als sich unsere Lippen ein weiteres Mal berühren. Zusätzlich legt sie ihren Kopf in den Nacken, sodass ihre schwarz-braun-grauen Haare wie ein Umhang ihren Rücken verdecken.
Es gibt so viel zu sagen und doch lässt keiner von uns die Stimme von dem dunklen Gestein meines Versteckes hallen. Mir ist klar, dass wir beide hier weg müssen, damit ich sie wenigstens in Sicherheit bringen kann, obwohl ich weiß, dass wir nie vor der Macht und ihren Anhängern fliehen oder gar irgendwo sicher sein können. Die Entschlossenheit und die Kraft eines Löwen und die eines Wolfes, der sein Rudel beschützt, geben mir das Gefühl unbesiegbar zu sein. Trotzdem bleibe ich nüchtern, denn weder die Macht noch ich sind unbesiegbar, wir sind beide verwundbar. Aber die Gefühle des Mädchens sind es. Nichts und niemand wird sie je zerstören können.
Kurz löse ich mich von ihr und sage das, was ich ihr schon lange hätte sagen sollen: "Ich liebe dich."
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Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*
VampireAnfangs bin ich wie tot, ausgelaugt und geschwächt von den Kämpfen zwischen mir selbst und der Macht, die in mir haust und mich zu dem gemacht hat wer bzw. was ich jetzt bin - ein Vampir. Doch dann kam sie, meine Kerze, mein Licht in der Dunkelhei...