45. Kapitel: (Likonell)

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Die Treffen mit ihm haben sich verändert. Er wirkt immer unkonzentriert und abgelenkt, als wäre er mit den Gedanken ganz wo anders, außerdem lässt er, wie sonst auch, keine Berührungen zu und entzieht sich mir wenn ich ihm "zu nahe komme". Um ehrlich zu sein bin ich total frustriert und verärgert. Sein Verhalten nervt tierisch!
Ob er jemanden anderen hat oder gar eine andere? Danach werde ich ihn gar nicht fragen... Das Salz, das er mir täglich in meine Wunden streut reicht mir schon!
Beinahe widerwillig mache ich mich trotzdem Tag für Tag auf den Weg zu seinem Versteck, denn ich habe die Hoffnung, törichter weise, immer noch nicht aufgegeben, denn das Gegengewicht zu den Enttäuschungen sind die Erinnerungen an die schönen Momente in unserer kurzen Beziehung.
Und doch werde ich immer unglücklicher...
Durch meine Krankheit war ich schon als Kind viel zu Hause und selten in der Schule und unter Gleichaltrigen, ich hätte ja umkippen können... Somit ist er mein erster wirklicher Freund den ich je hatte. Umso schmerzhafter ist sein scheinbar unausweichlicher Verlust.
Heute beschließe ich, ihn einfach nicht zu besuchen, vielleicht kommt er dann ja und schaut nach mir.
Ich hätte gerne berichtet, dass der eine Teil von mir, der ganz sicher ist, dass er wirklich kommt, recht behalten hat, leider stimmt das nicht... Meine Angst hat recht behalten...
Heiße Tränen der Trauer, der Enttäuschung und sogar der, zu meiner eigenen Überraschung, Eifersucht kommen mir. Sie brennen in meinen Augen, jedoch rollen sie nicht über meine Wangen.
Obwohl ich in den Augen meiner Eltern ein sehr hohes Risiko eingehe, schließe ich mich in mein Zimmer ein. Sie sollen mich so auf keinen Fall sehen! Vielleicht schäme ich mich sogar...
Und dann werde ich wütend, unbeschreiblich wütend. Alles andere rückt in den Hintergrund. Da ist nur noch diese brennende, glühende Wut. Ich weiß nicht einmal woher sie überhaupt kommt! Was hat in mir dieses Feuer entfacht?
Ich schrecke vor mir selbst zurück und mir wird spei übel. Ich hasse ihn doch nicht! Ich liebe ihn! Wie kann ich ihm das antun?! Völlig entkräftete sinke ich auf mein Bett und atmet schwer und ungleichmäßig. Ich fühle mich elend.
Doch dann ist alles wie weggeblasen, beinahe so als hätte ich Drogen genommen die meine trübe Stimmung lichten und mir schöne Dinge vorgaukeln. Völlig ruhig liege ich da und vergesse fast, wieso ich mich aufgeregt habe.
Sanft und zärtlich flüsternd mir eine Stimme ins Ohr: "Beruhig dich. Er hat dich nicht verdient! Du bist etwas ganz besonderes, aber das sieht er nicht. Du bist so stark und kämpfst um dein Leben, du bist viel stärker als er! Wieso solltest du dich auf ihn einlassen und akzeptieren was er dir antut? Das hast du nicht verdient! Er hat kein Recht dir dein Leben noch schwerer zu machen, obgleich du es so gut meisterst! Er tut dir doch nur weh!" Die Stimme verstummt, hat jedoch einen seltsamen Nachhall. Ohne darüber nachzudenken gebe ich der Gedankenstimme recht. Wieso sollte ich an ihm festhalten, wenn er nicht einmal zu sehen scheint, was ich schon alles erreicht habe? Ich wäre ohne meinen hartnäckigen Überlebenskampf schon längst tot! Es sieht meine Stärke nicht!
Wieder kocht in mir die Wut hoch. Am liebsten würde ich ihm alles ins Gesicht schreien. Vielleicht würde er mich dann endlich respektieren!
Ohne es wirklich mitzubekommen schließen sich meine Augen und ich gleite in einen tiefen, unruhigen Schlaf. In den unzähligen Träumen die ich daraufhin habe geht es praktisch immer um das gleiche: ich bringe ihn auf alle erdenklichen weißen um. Anfangs bin ich schockiert von der Brutalität und der Gewalt die mein Traum-Ich ausführt und würde am liebsten schreiend Aufwachen, doch irgendwann genieße ich es und finde Gefallen daran ihn zu Boden gehen zu sehen.
Unterbewusst bin ich mir sicher, dass ich immer mehr in ein starkes, klebriges Netz gewickelt und immer tiefer in eine gefährliche, auslöschende Dunkelheit gezogen werde. Alle meine Werte und alles für was ich stehe werden gepackt und grotesk verdreht, alles was mich ausmacht gehört mit nicht mehr und ist nicht mehr ich. Ich bin nicht mehr ich. Irgendetwas hat mich verändert. Mein Ich löst sich auf wie die Maschen eines Wollpullovers, an dessen losem Faden man gezogen hat. Ich werde neu gestrickt. Es ist ein seltsames Gefühl, auch wenn ich nicht wirklich viel davon mitbekomme. Ich bin wie narkotisiert.
Eines jedoch spüre ich viel zu deutlich, es wächst in mir, strömt durch meinen Körper, brennt wie Feuer, verätzt meine inneren Organe und malträtiert mich mit winzigen, unzähligen Messerstichen, die das Brennen nur noch verstärken. Unter Qualen schreie ich mir die Seele aus dem Leib, verdrehe die Augen nach oben, habe Schaum vor dem Mund und winde mich unter Zuckungen. Ungreifbar blitzt kurz der Gedanke in mir auf, wieso meine Eltern nicht nach oben in mein Zimmer stürzen und mich retten...
Wie lange ich in diesem Zustand aus Qual, Leid, Verwirrung, Leere, Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit weiß ich nicht, es können nur ein paar Sekunden gewesen sein aber auch mehrere Tage oder Wochen.
Fällt mein Wegbleiben nicht auf, vermissen mich meine Eltern etwa nicht, vermisst ER mich nicht?
Dann wird mir kalt, so schrecklich kalt, sodass kein Platz mehr für solche Gedanken ist. Plötzlich tut mir nichts mehr weh, mein Blut gefriert und mein Herz steht still. Ich möchte tot sein, jedoch "lebe" ich weiter und kann das Schlagen der Herzen der Menschen hören, vereint in einem einzigen Rhythmus: dem da Angst. Mein verkrampfter Körper entspannt sich, dann ist da einfach nichts mehr, einfach nichts. Kein Gefühl, keine Schwerkraft, keine Erdanziehung, kein Licht, keine Dunkelheit. Meine Welt ist untergegangen. Ich versinke wie ein Stein immer tiefer und tiefer, es gibt kein Zurück mehr.
Dann höre ich wieder diese betörende Stimme. Trotz der unverständlichen Worte fühle ich mich zu ihr hingezogen, auch wenn ich den dazugehörigen Körper nicht kenne. Weiterhin schmeichelt sie mir und zieht mich in ihren Bann.

Als ich die Augen öffne liege ich entkleidet in einem Wald und kann mich nur noch verschwommen an etwas erinnern. Ich friere nicht, jedoch fasse ich mir an den Kopf, denn er schmerzt sehr. Sonst habe ich keine Beschwerden die für Rheuma typisch sind, wie Schwäche, ungeheure Schmerzen, und das kaum merkliche Humpeln. Daraus wurde unglaublich Stärke, eine angenehme Leichtigkeit und mehr als fließende Bewegungen.
Ich bin geheilt! Nie wieder Medikamente!
Mit kindlichem Übermut springe ich auf und tanze vor Freude um einen nahegelegenen Baum. Mit einer mir unbekannten Stimme rufe ich immer wieder: "Ich bin frei, endlich frei!" und lache und lache und lache.
Verdutzt halte ich inne.
Vor mir liegt ein Stapel Klamotten. Ehe ich mich fragen kann warum, höre ich die Antwort in meinem Kopf: "Jedes Wesen das ich es schaffe ist für andere Gattungen geruchsneutral. Deine alten würden dich nur verraten. Ich schenke sie dir!", trotzdem bin ich misstrauisch, also schaue ich sie mir genauer an. Zu meinem Bedauern sind das Kleidungsstücke für einen 10-jährigen Jungen und ich bin 17. Da passe ich doch niemals rein! Gegen allen Sinn halte ich sie mir trotzdem an meinen Körper. Seltsamerweise sehen sie durchaus so aus als könnten sie passen...
Erschrocken lasse ich sie fallen. Da stimmt doch etwas nicht!
Auch wenn ich meinem Verdacht überhaupt keinen Glauben schenke beginne ich vorsichtig und zögerlich mich abzutasten und renne schleunigst zu einem Bachlauf. Als ich mein Spiegelbild betrachte trifft mich der Schlag: tatsächlich, ICH BIN EIN 10-JÄHRIGER JUNGE!!!

 Als ich mein Spiegelbild betrachte trifft mich der Schlag: tatsächlich, ICH BIN EIN 10-JÄHRIGER JUNGE!!!

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Mein gellender Schrei hallt durch den Wald.
Wieder meldet sich die Stimme: "Beruhige dich! Ich habe dir eine besondere Gabe geschenkt. Nutze sie weise und lerne damit umzugehen und jetzt zieh dich endlich an!" Mit einem unbehaglichem Gefühl gehorche ich und tatsächlich: SIE PASSEN!!!
Doch beendet ist es noch lange nicht.
Mein Körper flimmert wie eine Fata Morgana und verwandelt sich in mein normales Alter zurück. Meine Haut glitzert wie Eis, meine Augen sind kristallblau und meine blonden Haare sind blass, als wären sie von Raureif bedeckt. Starke Muskeln prägen meine Arme, meinen Oberkörper und meine Beine.
Ich werde nie wieder schwach sein.

Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt