46. Kapitel:

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Ich bin so glücklich und endlich wieder vollständig! Ich kann es kaum fassen, dass sie endlich wieder da ist! All der Kummer der letzten Monate ist verflogen. Ich bin wie befreit und fast schon beflügelt. Wie lange habe ich gewartet, dass sie wieder bei mir ist!? Ich könnte Luftsprünge machen! Ganz bestimmt wird es nicht mehr lange dauern und sie wird mich wieder erkennen und sich daran erinnern, wie sehr wir uns lieben. Ich glaube fest daran. Nur die Hoffnung nicht aufgeben, dann wird alles gut.
Wie im Traum taumle

ich zu der zerfledderten Couch und lasse mich drauf fallen, während mir ihr angenehmer Geruch in der Nase kitzelt und mir ihre zarte Stimme in den Ohren klingt.

Alles ist so perfekt!
Doch nein, irgendetwas stimmt nicht. Wachsam und kampfbereit spannt sich mein Körper an. Mein Blick ist auf die Tür gerichtet, dahinter höre ich lautlose Schritte.
Jemand schleicht sich an...
Da in dieser alten Hütte fast vollständige Dunkelheit herrscht, löse ich mich auf und vereine mich mit ihr. Falls es wirklich jemand wagen sollte mich anzugreifen oder zu überfallen, wird wer auch immer zu spüren bekommen, dass er hier an der falschen Adresse ist!
Warnend blecke ich die Zähne.
Die Schritte halten inne. Zögern sie nur? Oder machen sie sich sprungbereit? Alles ist ruhig und angespannt, kein Geruch liegt in der Luft. Habe ich mich nur getäuscht?
Irritiert kehre ich in meine gefestigte, ursprüngliche Gestalt zurück und pirsche mich an das verstaubte Fenster. Niemand ist da.
Ich bin ganz alleine...
Ein seltsames Gefühl überkommt mich, so als würde sich eine bleierne Schwere auf mein totes Herz legen...
Ein anderes Geräusch lenkt mich ab, erst das Klopfen eines Herzens, dann das Klopfen an meiner maroden, alten Haustür. Ich zögere, denn alles kann ein Trick dieses Monsters sein, doch nein, als ich die Tür öffne steht das Mädchen vor mir. Ihre sonst eher blassen Wangen sind gerötet, ihre braunen Augen funkeln und glänzen. Unwillkürlich stiehlt sich ein schwermütiges Lächeln auf meine Lippen.
Wie sehr habe ich ihren Anblick vermisst?
Zu meiner großen Freude beginnt ihr Gesicht zu leuchten und ein strahlendes Lächeln breitet sich darauf aus. Mein Herz würde hüpfen, denn ihre Augen zeigen so viel Glück und überschwängliche Freude, dass sie fast schon zu überlaufen drohen. Meine finstere Stimmung von vorhin ist wie weggeblasen. Wie kann ich mich gegen dieses Strahlen wehren? Das ist einfach unmöglich, also werde auch ich von einem merkwürdigen Hochgefühl erfüllt. In meinem Bauch beginnt es zu kribbeln und ich bin mir ganz sicher, dass mein sonst eher verkniffener Mund ebenfalls von einem glücklichen und vor allem breiten Lächeln gezeichnet ist.
Ohne wirklich darüber nachzudenken mache ich einige Schritte auf sie zu bis ich ganz knapp vor ihr stehen bleibe. Selbstverständlich ist mir nicht entgangen, dass daraufhin ihr Herzschlag und ihre Atmung um einiges schneller geworden sind und dass sie sogar einen leisen Stöhner ausgestoßen hat. Angespannt fällt mein Gesicht in die gewohnte, gleichgültige und leere Maske zurück.
Ich mustere sie wachsam.
Jetzt hält sie den Atem an, dann, ganz zaghaft, setzt ihre Atmung wieder ein und sie macht einen kleinen Schritt auf mich zu und nimmt so jeden Zwischenraum weg, der uns noch getrennt hat. Instinktiv lege ich meine Hände an ihre Hüften und ziehe sie ganz dicht zu mir heran, während sie ihre Arme um meinen Hals schlingt und sie sich an mich schmiegt. Wieder vergrabe ich kurz aufstöhnend mein Gesicht in ihren Haaren und genieße, mit einem warmen Gefühl in meiner Brust, ihre Nähe. Zärtlich streift ihr Atem meine Schulter, denn sie hat ihren Kopf daran angelehnt. Mit vorsichtigen, gleichmäßigen Bewegungen streichele ich ihren Rücken und ihre Haare und schließlich meine Augen. Kein einziger Gedanke an meine Ängste, dass sie merkt dass ich nicht atme und wie kalt meine Haut ist, stören diese Ruhe und diesen Frieden, nicht einmal das ihre Körperwärme mir eigentlich Schmerzen zufügen müsste. Ich fühle mich wohl eher zu dieser Wärme hingezogen anstatt mich an ihr zu "verbrennen".
Dieser Moment wird auf ewig in meinem Herzen sein, denn es ist das allererste Mal in all diesen schrecklichen Jahrtausenden als Vampir, dass ich mich frei und beinahe wieder menschlich fühle. Sie lässt mich vergessen, dass ich unwiderruflich verloren und ein blutrünstiges Monster bin... Diese Seite an mir sieht sie nicht, sie sieht das Gute in mir, das Wenige was noch von meinem alten Ich übrig geblieben ist. Na ja, auch ohne zu wissen wie ich damals war, bin ich mir zu 100% sicher, dass sie mich komplett verändert hat und mich zu einem besseren "Menschen" gemacht hat. Durch sie bin ich überhaupt noch am "Leben".
Meine geschlossenen Augen öffnen sich und starren ins Leere. Ohne sie wäre ich schon längst in der Hölle gelandet... Mit einem leisen, gequälten Stöhnen mustere ich unauffällig ihr Gesicht und versuche mir jede Facette einzuprägen, damit ich es nie wieder vergesse. Es wäre meine einzige Rettung, denn wenn ich dann wirklich verloren bin, ist es das einzige was mich vor dem endgültigen Genickbruch halbwegs retten könnte.
Egal wie gut und präzise meine Selbstbeherrschung ist läuft ein Schauer des Grauens durch meinen Körper.
Ich habe ihr so viel zu verdanken...
Einige Zentimeter entfernt sie sich von mir und mustert mich prüfend. Ich hätte nicht denken dürfen dass ihr meine Stimmungsschwankung entgeht.
Das Lächeln, welches ich jetzt zur Schaustelle, kommt mir aufgesetzten und falsch vor und erreicht definitiv nicht mehr meine Augen, die sich zu einem dunklen schwarz verfärbt haben. Sie lächelt gar nicht mehr, ihre Augenbrauen sind zusammengezogen, jedoch sagt keiner von uns ein Wort.
Die Stimmung, die jetzt aufkommt, ist weder angenehm noch unangenehm, sie ist aber auch nicht neutral.
Ohne jegliche Absprache gehen wir beide in die Knie, umschlingen uns gegenseitig ganz fest und geben uns ungeahnten Halt.
Mit wieder geschlossenen Augen nehme ich ihre Anwesenheit in mir auf, spüre sie so intensiv wie noch nie. Jetzt weiß ich, dass uns nichts mehr trennen kann, sie wird mich nie mehr verlassen und ich sie nicht. Unsere Liebe ist stärker als die Macht und alle anderen Vampire, die dieses Gefühl nicht einmal kennen!
Kurz überkommt mich Traurigkeit, denn irgendwann in ihrer Existenz, ich hüte mich davor diesen Zustand "Leben" zu nennen, waren sie Menschen und kannten dieses Gefühl nur zu gut. Auch Menschen die denken, dass dieses Gefühl in ihrem Leben nicht existiert, irren sich: es ist immer noch da, denn es ist der Grund für Menschlichkeit. Und genau das ist der gravierende Unterschied zwischen den Lebenden und den Lebendtoten. Wir sind nicht mehr menschlich, da Liebe bei uns nicht mehr existiert und Liebe die Grundlage für Glück, Glaube und Hoffnung ist.
Und das sind wiederum die Gefühle die einen leben lassen...
Entschlossen drücke ich das Mädchen an mich. Ich bin zwar kein Mensch mehr, jedoch bin ich menschlicher als jeder Einzelne meiner Artgenossen. Ich habe wieder gelernt zu lieben, somit ebenfalls zu leben. Das Mädchen gibt mir Kraft, meine Liebe zu ihr gibt mir Kraft. So bin ich stärker als die Macht und kann sie besiegen. Ich gehöre ihr nicht mehr, ich werde ihr nie wieder gehören!
Schmerzerfüllt stöhne ich auf. Mein Herz hat gekrampft. Der erste, richtige Versuch seit Jahrhunderten zu schlagen...
Erstaunt fasse ich mir an der Brust.
"Was hast du?" Ihre besorgte Stimme passt so gar nicht zu der Euphorie die jetzt in mir tobt. Ein strahlendes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Es ist beinahe zum Lachen wie sich ihre Augenbrauen nachdenklich zusammenschieben und sie mich äußerst irritiert mustert. Völlig außer mir ziehe ich sie an mich und küsse sie stürmisch auf den Mund, vergrabe meine Hände in ihren Haaren und ziehe sie noch fester an mich, sodass ich sie fast zu zerquetschen drohe. Dann springe ich auf und schleudere sie an den Händen haltend, in dem verrückten Versuch zu tanzen, in der alten Hütte rum. Wir drehen uns im Kreis, lachen und sind ausgelassen. Dann bleibe ich stehen, hole sie wieder zu mir her und wir küssen uns in gegenseitiger Erregung und Euphorie.
Völlig außer Atem sinken wir anschließend auf den Boden, können das Lachen jedoch nur schwerlich zurückhalten. Zu meiner großen Freude ist es nicht nur ihr Brustkorb der sich in schwerer Arbeit hebt und senkt, es ist auch meiner.
Völlig losgelöst von trüben Gedanken halten wir uns lachend an den Händen, stehen leicht schwankend wieder auf, verlassen das Bretterhäuschen und betreten die unberührte Natur des Waldes in dessen Mitte mein neues Zuhause steht. Verblüfft hält das Mädchen den Atem an, ihre Augen weiten sich, sie öffnet leicht den Mund und dreht sich in ungläubigem Erstaunen um sich selbst. "Wahnsinn! Das habe ich ja noch nie gesehen! So viel unberührte Natur, weit und breit keine Stadt mit Häusern oder Straßen."
Voll Ehrfurcht legt sie die Hände vor den Mund.
Ich bin mir nicht sicher was für eine Art Stadt sie meint. Bestimmt nicht die mittelalterliche Stadt in der ich aufgewachsen bin und in der ich gejagt habe. Mein Lächeln verschwindet. Ich habe schon so viele Menschen getötet... Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Das bin ich nicht mehr!
Um mich zu beruhigen atme ich tief ein und aus und tatsächlich dehnen sich meine Lungen und ziehen sich dann wieder zusammen, leider ersterben sie wieder.
Aus einer plötzlichen Gegebenheit heraus packe ich das Handgelenk des Mädchens. Erschrocken stößt sie Luft aus. Ich halte sie so fest, sodass sie die Zähne zusammen beißt um nicht zu schreien. Wir beide wissen, dass diese Situation schon einmal passiert ist und ich ihr tatsächlich das Handgelenk gebrochen habe. Trotzdem lasse ich nicht los, obwohl ich mich in diesem Moment mehr als alles auf der Welt selbst verabscheue.
Mit rauer Stimme beginne ich zu sprechen: "Ich muss dir etwas sagen." Mit weiterhin schreckgeweiteten Augen schaut sie mich an. "Ich bin nicht der für den du mich hältst, nicht einmal das für was du mich hältst." Sie erwidert nichts. "Ich weiß nicht wie ich anfangen soll... Du wirst höchstwahrscheinlich vor mir weglaufen und vor mir Angst haben und davor habe ich Angst. Ich kann dich nicht schon wieder verlieren..." Jetzt sagt keiner von uns etwas.
Ohne jeglichen Laut lasse ich ihr Handgelenk los. Ihr Arm fällt schlaff neben ihren Körper.
Ohne Vorwarnung kommt ein starker Wind auf und bläst ihre Haarsträhnen von ihrem Hals und entblößt ihn. Mein Blick fällt auf die zwei kleinen, parallel zueinander liegenden Wundmale, auf die Bisse die ich ihr zugefügt habe um ihr Leben zu retten... Prompt weiche ich vor ihr zurück und starre diese Löcher mit einer Mischung aus Abscheu und Leere an. Wie konnte ich nur zulassen sie so nah an den Rand des Abgrunds zu bringen in den alle Untoten stürzen wenn sie für immer verloren sind!?
Da ich ihren Anblick und den Beweis für meine Gräueltat nicht länger ertragen kann drehe ich mich um und fliehe in den Wald.
Sie bleibt einsam und starr zurück.

Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt