39. Kapitel:

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Erst jetzt wird mir bewusst, in welcher Zeit ich überhaupt bin: 21. Jahrhundert, ihre Zeit.
Es hat also tatsächlich funktioniert...
Nur leider bringt mir das nicht besonders viel, denn ich schwebe jetzt womöglich in noch größerer "Gefahr" als in meinem Land, denn die Macht ist nun anscheinend das kleinere Übel.
Geknickt und mit eingezogenem Kopf schleiche ich durch fremde Gassen, völlig entkräftet und am Ende.
Die "Verwandlung" scheint an meinen Kraftvorräten zu zehren, an meinen schönen Erinnerungen, die ich als Schutzschild unbedingt behalten muss, und an meinen Lebensressourcen.
Taumelig versuche ich mein Gleichgewicht mit Hilfe der mich umgebenen Wände nicht zu verlieren, bis ich schlussendlich nun doch am Ende einer Sackgasse zusammenbreche.
Ich kann nicht mehr.
Ich kann nicht einmal weinen, nicht einmal wimmern, nicht einmal schluchzen.
Ich bin nur ein Schatten meiner selbst, weder ganz Vampir, noch ganz Mensch, wenn, dann bin ich gebrochenes Etwas in der Mitte von beiden...
Ich bin nicht mehr wütend, nicht mehr von Hass bis zum Überlaufen gefüllt, ich bin einfach nur leer. Mir ist es völlig egal, was ab jetzt aus mir wird, man könnte mich töten, vielleicht würde ich mich darüber freuen, man könnte mich am Leben lassen, vielleicht wäre ich dann traurig. Vielleicht auch nicht.

Mit kaum einer Reaktion registriere ich, dass alles um mich herum, einschließlich mir selbst, verschwommen und unreal wird.
Nicht weit von mir entfernt liegt wieder mein jüngeres Ich, immer noch zehnJahre alt, in sich zusammengesunken und entkräftet, genauso wie ich.
Mit unendlicher Qual hebt das Kind den Kopf. Ein verquollenes Gesicht mit tränenroten Augen ist ausdrucklos auf mich gerichtet, wie eine tote, leblose Maske, die nichts mehr zum Leben erwecken kann, ein Jungengesicht, das nie wieder lachen oder gar fröhlich sein wird. Nicht einmal mehr Trauer und Schmerz könnten die reglose Mimik wieder in Gang bringen. Leere Höhlen starren mich an, flacher Atem, der eines Sterbenden, streift mein Gesicht.
Die Stimme, die ich jetzt höre, ist zwar brüchig und rau, klingt jedoch wie die eines der stärksten und ältesten Lebewesen dieser mickrigen Welt: "Hasse nicht, lebe nicht. Töte um zu hassen, lebe um zu töten. Zerstören um zu hasse, hasse um zu zerstören. Wehre dich nicht dagegen, es ist deine Bestimmung, dein Recht!" Die Stimme wird jünger, wird verzerrter, abstrakter: "Nimm Rache und genieße es! Jeder hat deinen Zorn verdient! Töte sie, töte sie alle! Werde das was du bist, um dein Werk zu vollenden!"
Das Gesicht des Jungen wird zur Fratze, die Zähne sind gefletscht wie bei einem Tier. Die Schreie werden schrill, klingen wie brechendes Glas, explodieren und verstummen dann.
Das Kind ist nun ruhig, liegt unnormal verdreht und verborgen auf dem Boden.
Gedankenverloren ziehe ich den Körper zu mir, lege ihn in meinen Schoß, warte auf den schmeichelnden Rat der Macht es zu töten, oder auf das Wimmer des Kindes, aber nichts passiert.
Das Kind in mir ist tot.

Die Vision entlässt mich wieder.
Würgend sitze ich da, der ungewohnte Blutanteil in meinem Magen lässt mich beinahe Kotzen...
Mir ist schlecht.
Wie lange habe ich schon kein Blut mehr getrunken?
Mehrere Jahrhunderte...
Meine Kehle kratzt, ich schlucke und schlucke und schlucke, bis der letzte Rest der roten Flüssigkeit auf dem Boden vor mir eine Pfütze bildet und meinen Körper verlässt wie den der Hyäne, nur sterbe ich nicht daran wie sie.
Zitternd und immer noch würgend kauere ich mich in den Schutz der Dunkelheit an die Mauer der Gasse.
Man darf mich nicht finden. Also muss ich mich wieder einmal verstecken.
Wäre ich klaren Kopfes gewesen, würde ich mir wahrscheinlich die Fragen stellen, vor WEM ich mich eigentlich genau verstecken muss und wie es dieser andere Vampir überhaupt geschafft hat, mir bis hier her zu folgen und mit der Hilfe der Macht, die ich deutlich spüren konnte, obwohl das blaue Monster dafür eigentlich viel zu wenig Kraft haben dürfte, da das hier nicht ihr Land ist, die Gestalt wandeln konnte...
Stattdessen wirbeln meine Gedanken unkontrolliert herum, oder stoppen unvorhergesehen.
Einen klaren Kopf zu behalten ist im Moment schier unmöglich.
In diesen wenigen Stunden, Minuten oder Sekunden ist zu viel passiert, zu viel ist aus dem Ruder gelaufen und hat alles zerstört, was ich mir seit dem Auftauchen des Mädchens aufgebaut habe.
Sie habe ich verloren, meinen Frieden habe ich verloren, denn jetzt tobt ein neuer Krieg in mir. Kein Ziel zu sehen. Keine Rettung. Nichts. Ich habe nichts mehr. In mir ist es Dunkel und Kalt. Mein Licht in der Dunkelheit ist unerreichbar Fern.
Ewige Verdammnis..., das ist der Preis den jeder, der sich verwandeln lässt, zahlen muss. Man wird seiner Identität beraubt, seines Wesen, seiner Chance auf Glück und Frieden, bis man nicht mehr als ein weiterer Teil ihres Körpers, ihrer Armee ist...

Ganz langsam öffne ich die Augen.
Verschwommen nehme ich die Gestalt wahr, die mit einer Waffe im Anschlag vor mir steht.
Geistesabwesend starre ich auf den Himmel. Der Morgen graut bereits, ich muss weggetreten sein.
Die Gestalt entpuppt sich als höchstens 17 jähriger Polizist in grüner Uniform. Der lächerliche Anblick der Waffe lässt mich tatsächlich leicht Grinsen. Dieser schwächliche Wicht droht ausgerechnet mir mit diesem Spielzeug? Ein abgehaktes, leises Lachen kratzt in meiner Kehle. Für was hält sich dieser Wurm?!
Und trotzdem regt sich ein kleiner Funken Respekt in mir.
Der vor mir scheint ein schlaues Kerlchen zu sein, also klug genug um meine dunkle Aura spüren zu müssen, trotzdem "bedroht" er mich mit diesem Ding, ohne die Flucht zu ergreifen. Ich sehe ihm seine Angst an, geweitet Pupillen, starre, steife Körperhaltung, Anspannung, außerdem kann ich sie riechen und mir die aufgestellten Härchen an Nacken und Arm und die wirbelnden Gedanken bildlich vorstellen.
Mein Grinsen wird ein Stück breiter.
Auf ein zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgestoßenes: "Aufstehen und Hände hinter den Kopf!", stehe ich langsam auf, ohne mein Gegenüber ein einziges Mal aus den Augen zu lassen, und hebe Stück für Stück meine Arme und befolge den Befehl, nicht ohne mich an der Wand abstützen zu müssen.
Ich bin ungefähr genauso groß wie der Polizist, wenn nicht sogar etwas größer. Schulterlanges, blondes Haar verdeckt teilweise das sanft geschwungene Gesicht mit intensiven, blauen Augen, die jede meiner Bewegungen verfolgen würde, wenn ich mich bewegt hätte. Die schmalen Lippen sind aufeinander gepresst.
Unnötigerweise sagt er: "Keine Bewegung!"
Jetzt muss ich mich wirklich bemühen, meine Mundwinkel in einer unspöttischen Haltung zu halten, denn keiner von uns hat sich bisher gerührt. Schweigend stehen wir uns gegenüber. Beinahe könnte man meinen, wir wären eingefroren.
Eine mir unbekannte Stimme lässt mich zusammenfahren. Jemand ruft den jungen Mann. Dieser wirft mir einen letzten, merkwürdigen Blick zu, lässt langsam die Waffe, die er die ganze Zeit auf mich gerichtet hat, sinken und geht. Er schien nicht zu wissen, in welche Kategorie "Verbrecher" er mich stecken soll, denn seine Stirn war in Falten gelegt und seine Augenbrauen zusammengezogen, als müsse er über etwas scharf nachdenken.
Aus welchem Grund auch immer halte ich meine Hände immer noch hinter meinem Kopf und rühre mich noch immer nicht.

Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt