27. Kapitel: (Das Mädchen)

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Mein Verstand hat sich aufgeklart und auch meine Sinne trügen mich nicht mehr. Es ist still und die Stimmung ist nach wie vor drückend. Im Prinzip bin ich alleine, der Junge ist wiedermal bewusstlos. Sein Gesicht ist verzerrt, sein Mund von Schaum bedeckt. Was hat ihm dieses Monster angetan?!
Wieder würde ich ihn gerne berühren. Diesmal ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er nicht darauf reagieren wird. Jetzt weiß ich, dass er nicht tot ist, egal ob es so scheint oder nicht, er lebt auf eine ziemlich unwahrscheinliche Art weiter.
Er sieht ruhig und friedlich aus, trotz der Verzerrung seines Gesichts. Soll ich es wagen?
Vorsichtig krieche ich zu ihm und betrachte ihn eingehend. Er sitzt aufrecht an die Wand gelehnt, der Kopf fällt auf sein Knie, das Gesicht ist jetzt von den verklebten und verschwitzten Haaren verdeckt. Seine Hände hängen nutzlos neben seinem Körper. Man könnte meinen er sei ein Betrunkener der gezwungen ist seinen Rausch auszuschlafen. Es wäre eine so simple, logische, trügerische Ausrede für diese unlogische und unbegreifliche Wahrheit.
Hätte ich mit diesem Jungen wirklich eine Zukunft? Es wird nicht leicht sein, das ist mir klar, denn dieses Monster wird garantiert versuchen mich aus dem Weg zu räumen und zu verhindern wissen, dass er mich jemals lieben wird. Ich habe gesehen wie stark er ist, doch dieses Monster ist es auch. Könnte ich ihm helfen? Nein, ich wäre dazu gezwungen zu hoffen und machtlos zusehen zu müssen wir einer von ihnen den Kampf verliert. Ich müsste daneben stehen und Däumchen drehen. Mehr könnte ich nicht tun. Will ich mir das wirklich antun? Jetzt hätte ich die Chance zu fliehen und vielleicht doch in das Heim meiner Pflegefamilie zurückkehren, egal wie verhasst mir dieser Gedanke auch sein mag. Andererseits will ich nicht weg, egal wie gefährlich es für mich sein mag. Jetzt ist es nicht gefährlich, nicht solange er sich nicht rührt.
Als hätte er meine Gedanken vernommen hebt er wieder den Kopf, seine Augen öffnen sich, jedoch scheinen sie nichts zu sehen. Sie sind verschwommen und blicken drein als wäre er unter Drogen.
Wie ferngesteuert lege sich meine Hand an seine Wage und er stöhnt, jedoch entspannen sich seine Gesichtszüge. Keiner von uns rührt sich. Alles ist still und ruhig.
Für diese düstere Atmosphäre unpassende Gefühle glühen in meiner Brust, gleichzeitig wird meine Angst vor seinem Erwachen immer größer. Es sind beides starke Gefühle die umso verbissener miteinander ringen, obwohl ich das erste kaum deuten kann.
Er beginnt sich zu rühren und murmelt undeutliche Worte. Ich jedoch bleibe wo ich bin, das aber nur für kurze Zeit. Meine Hand unterbricht die Berührung seiner Haut. Schnell flüchte ich an die gegenüberliegende Wand und stelle mich schlafend. Wenn ich Glück habe ist er anfangs so verwirrt, dass er meinen kleinen Schwindel nicht bemerkt oder gar meine ganze Anwesenheit. Im ersten Moment ist das auch so, doch dann berührt er seine Wange an der Stelle, wo noch wenige Minuten zuvor die Meine gelegen hat und sucht mit den Augen nach dem Grund für das prickelnde Gefühl auf seiner Haut: mich. Es bringt also nichts mehr meine Augen geschlossen zu halten, also öffne ich sie wieder und starre ihn an. Seine brennenden Augen fixieren die Meinen und entflammen meine Seele. Nichts ist in ihnen zu erkennen, sie sind leer und intensiv zugleich, genauso wie sein Gesicht, das seine regungslosen Züge beibehält. Jetzt ist er wieder der Junge und nicht das Monster das mich in Stücke reisen will. Erkennen tut er mich trotzdem nicht. Langsam setzt er sich zu mir auf den Boden als wolle er mich nicht erschrecken und lässt die Härte seiner Züge fahren. Man könnte fast meinen sie würden Zärtlichkeit ausdrücken. "Warst du das?" Seine Stimme gibt mir keinerlei Grund zur Furcht, trotzdem schlägt mein Herz schneller und der Klos in meinem Hals hindert mich daran ihm zu antworten. Sein lächelnder Mund scheint sich über mich lustig zu machen und treibt mir die Röte ins Gesicht. Würde ich nicht wissen was er ist würde ich ihn wegen seines breiten Grinsens ohne Zweifel für einen ganz normalen Jungen halten. Jedoch ist er kein normaler Junge und dieses Wissen lässt mich wieder ernst werden. Sogar einzelne Tränen schleichen sich aus meinen Augen. Er lächelt immer noch, jedoch sieht es jetzt leer und falsch aus, als wäre er gar nicht mehr anwesend.
Keiner von uns merkt wie nah wie nebeneinander sitzen.
"Was ist das?" Seine Stimme ist träge und kratzig, ganz anders als vorhin und sein Finger streicht über meine Wange um einer meiner Tränen aufzufangen. Er starrt ihn an als wäre etwas Giftiges und äußerst befremdliches auf ihm. Er streckte ihn mir hin und wiederholt seine Frage, diesmal mit einer Spur von Zorn. Ruhig bleiben, auf keinen Fall provozieren. "Das ist eine Träne. Man nennt das Weinen. Das passiert wenn man zum Beispiel traurig ist." Am liebsten hätte ich hinzugefügt, dass er sowas nicht kenne da er nicht fühlen kann, jedoch verkneife ich es mir.
Draußen ist es längst wieder Nacht. Die Sterne glühen am Himmel und der Monat verteilt sein Licht auf der Erde. Allerlei lautlose Jäger schleichen im Schutz der Dunkelheit umher, Fledermäuse und Eulen orten ihre Beute und Mäuse fliehen in ihre Verstecke. Er scheint sie zu hören oder gar zu sehen, denn er dreht lauschend den Kopf und verhindert somit den Blick auf sein Gesicht. Ohne zu überlegen zwicke ich ihn in dem Arm. Zischend fragt er mich: "Was soll das?!" Ohne Angst erkläre ich ihm: "Das nennt man Schmerz.", obwohl ich mir nicht sicher bin ob er mehr die Wärme oder wirklich das Zwicken gespürt hat. "Das wusste ich nicht." Er sieht unbeschreiblich traurig aus, trotzdem fährt er fort: "Ich weiß nichts mehr, nicht wer ich bin, nicht wie man fühlt, eigentlich weiß ich gar nichts. Normalerweise würde ich mir über sowas gar keine Gedanken machen." Er lacht schräg und heißer. "Wenn sie da ist, wenn sie in mir ist und mich ausfüllt ist dafür kein Platz. Dann habe ich Spaß am Töten und fühle mich stärker als alles auf dieser schwachen Welt, nichts kann mir die Stirn bieten. Aber jetzt, da ich alleine bin, ist alles leer. Sie ist immer noch bei mir, dass weiß ich und trotzdem..."
Sein Gesicht ist starr wie zuvor. Ich könnte ihn fragen warum er mir das alles erzählt, jedoch tue ich es nicht, denn Schwiegen ist nun mal Gold und trotzdem brennt plötzlich in mir die Neugier wie es soweit kommen konnte. Was kann einen Menschen bewegen sich selbst aufzugeben?
Wieder beginnt er zu krampfen, zu röcheln und sein Gesicht verzerrt sich ein weiteres Mal. Es wird schlimmer. Ich muss versuchen ihn zu beruhigen.
Früher, als ich noch eine Familie hatte legte meine Mutter meinen Kopf auf ihre Knie und sang mir schöne Lieder vor wenn es mir schlecht ging oder ich traurig war. Vielleicht hilft ihm das.
Leise, ganz leise beginne ich es ihr nachzutun. Fast verwundert schaut er mich an und flüstert: "Diese Stimme kenne ich." Auch diesmal Frage ich nicht und singe einfach weiter. Kurz unterbreche ich mich: "Leg deinen Kopf auf meine Beine und strecke dich aus. Vielleicht kannst du sogar schlafen." Ich lächle während ich dies sage. Er tut es tatsächlich, trotzdem bittet er darum, dass ich weiter singen soll. Ich schnaube belustigt. Ausgerechnet er liegt wie ein kleines Kind vor mir, die Augen geschlossen, das Gesicht leicht verzerrt. Jetzt könnte man umso überzeugender meinen er sei tot.
Der Klang meiner Stimme ist das einzige Geräusch im diesem gottverlassenem Gemäuer. Seinen Atem wird man nie wieder hören.
Er ist längst versunken in dieser unergründlichen Welt, die man bei uns Traum nennen würde, ruht friedlich in meinem Schoß und rührt sich nicht. Ich will ihm irgendwie helfen, ihn erlösen von diesem Fluch, aber wie? Wenn er doch nur wirklich tot wäre, wenn er doch endgültig frei wäre...
Sein Kopf ist gebettet auf unzähligen Blutergüssen und Wunden. Ich habe meine Schmerzen längst vergessen. Man könnte glauben ich hätte sie nie gehabt, aber die Spuren, die meinen Körper zieren, erzählen vom Gegenteil, trotzdem spüre ich sie nicht. Wie ist das möglich? Warum ist alles so seltsam seit ich diesem Jungen begegnet bin? War es Schicksal oder Zufall? Liegt es wirklich in meiner Hand ihn zu retten? Ist das unser beider Schicksal? Wenn ja, hoffe ich, dass ich diesem gerecht werde. Und wenn ich versage? Am besten nicht daran denken, irgendwie schaffe ich das schon.
Sein Gesicht verkrampft sich, sein Körper versteift sich. Das Monster kehrt zurück.

Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt