48. Kapitel: (Das Mädchen)

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Völlig geschockt stehe ich wie angewurzelt da und nehme die Tränen kaum wahr, die meine Wangen hinabkullern.
Dann ist es um meine Beherrschung geschehen: bitterlich weinend und heftig schluchzend sinke ich auf die Knie und verdecke mein gerötetes Gesicht mit meinen Händen.
Auch wenn ich noch immer nicht meine vollständige Erinnerung zurück habe, wusste ich von Anfang an, dass eine sehr starke Verbindung zwischen uns herrscht.
Umso schmerzhafter ist dieses mir unerklärliche Wegstoßen seinerseits...
Was sollten überhaupt diese Worte, dass er nicht normal sei, dass er gefährlich sei?
Um ehrlich zu sein: trotz meinem sofortigen Vertrauen zu ihm hatte ich in den letzten Minuten unseres Zusammenseins panische Angst vor ihm.
Der Gedanke an Jonas und mein neues Zuhause geben mir einen kleinen Lichtblick und gleichzeitig einen genauso "großen" Stich des Schuldgefühls, dass ich mich nicht gemeldet habe, jedoch habe ich jetzt einfach keine Kraft um mich zu erheben und zu ihm zu gehen.
Ich habe keine Kraft mehr...
Alles, einfach alles ist viel zu viel für mich!
Erst gelange ich auf mir unbekannten Wegen zu Jonas, ohne Erinnerung an meine Vergangenheit, meinen Namen, mein Alter, mein ganzes Ich. Ich weiß nichts mehr, so als wäre ich gerade erst geboren worden...
All diese Fetzen, die neuerdings in meinem Kopf herumschwirren, können alles nur Trugbilder sein und statt irgendwelchen wirklichen Erinnerungen lächerliche Hirngespinste...
Zwanghaft beginne ich irgendwelche Erinnerungen heraufbeschwören zu wollen, bis ich das Gefühl habe, dass mein Kopf endgültig explodieren wird...
Um diesen Schmerz irgendwie stillen zu können presse ich mit verzerrtem Gesicht meine Stirn auf den Boden.
Anschließend wippe ich mit dem Oberkörper auf und ab, lege meine Stirn immer wieder kurz auf den Boden und massiere mit zitternden, verkrampften Händen meine Schläfen.
Wie konnte das alles passieren?! Wie konnte ich so dumm und naiv sein, zu einem praktisch völlig Fremden in den Wald zu gehen?! Wie konnte ich nur so dumm sein?!?!?!
Völlig verzweifelt versuche ich meine stockende Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, meine Hyperventilation zu beenden und die Tränen von meinen langen, braunen Wimpern wegzubekommen, um meine Sicht wieder zu klären.
Das einzige, was von meinem Heulkrampf übrig geblieben ist, ist ein unbarmherziges Zittern.

Wackelig erhebe ich mich.
So kann es nicht weitergehen!
Ich bin nicht sein dummes Spielzeug, das er mal nehmen und dann wegwerfen kann! Er soll sich endlich ENDGÜLTIG für oder gegen mich entscheiden, ohne dieses hin und her!
Ich muss ihn endlich zur Rede stellen!
Mit flammendem Zorn in der Brust folge ich unserer tiefen Verbindung bis tief in den Wald.
"Wo bist du? Wir müssen reden!"
"Ich bin hier."
Mit müden Augen blickt er von einem Ast aus zu mir hinunter, zögert einige Sekund und springt dann zu mir.
Mit traurigem Blick und kratziger Stimme beginnt er zu sprechen:
"Ich hab dich gesucht, weißt du? Als mir klar war, dass du mich nicht mehr kennst, habe ich jede Nacht an das Fenster deines neuen Zuhauses geklopft, um dich irgendwie wieder zurückzuholen, aber ich habe es nie geschafft dich zu erreichen... Ich habe ALLES versucht und jetzt bist du da, stehst vor mir und ich hätte dich fast getötet. Damals... Du weißt es natürlich nicht mehr, aber genau das ist der Grund, wieso ich nicht gut für dich bin."
Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen streckt er die Hand nach mir aus und legt sie zärtlich an meine Wange.
Ohne Vorwarnung entrückt eine plötzliche Vision unsere beiden Realitäten:

„Du musst jetzt gehen", sagt das Mädchen matt. Statt sich von ihr zu entfernen küsst er sie leidenschaftlich auf den Mund und zieht sie ganz fest an sich.
Als es an ihrer Zimmertür klopft, springt er wie der Wind auf ihren Zimmerbalken und landet dort elegant.
Das Einzige, was sie davon mitbekommt, ist ein heftiger Windhauch, doch da er sich so schnell bewegt hat, was ihm als Vampir möglich ist, hat sie ihn nicht sehen können.
Bevor sie die Tür öffnet, schaut sie zu ihm hoch.
Fröhlich und breit grinst er sie an, sodass seine spitzen Vampirzähne aufblitzen, während er lässig seine Beine baumeln lässt.
Dann betritt Jonas ihr Zimmer und er ist blitzschnell verschwunden.
Dass er ein Vampir ist weiß sie, denn als sie ihn, nach ihrem ersten, auf die Nacht verlegten Date wieder gesehen hat, stieg er, mit einer riesigen Schusswunde in seinem Bauch, aus einem Auto, doch er machte keinerlei Anstalten auf den Boden zu sinken und zu sterben. Stattdessen half er ganz ruhig einer völlig geschockten Frau aus dem Taxi zu steige.
Auf deren blauem Seidenkleid waren rote Flecken, doch sie versicherte, es sei nicht ihr Blut, sondern das des Herren dort.
Es kam raus, dass sie des Nachts von irgendwelchen bewaffneten Banditen in eine Gasse gedrängt worden war, zufälligerweise die Gasse, wo er sich sein Lager eingerichtet hatte. Er hatte sich vor sie gestellt und mindestens zehn Schüsse mühelos und ohne aufzuschreien oder mit der Wimper zu zucken in sich hinein krachen lassen.
Sein aufgerissenes, kaputtes Jackett war ebenfalls mit seinem eigenem Blut getränkt, doch das Mädchen wusste, dass seine Haut nicht von dem "hohen Blutverlust" so bleich war, sondern einzig und allein seiner Unsterblichkeit zu verdanken ist.
Doch das war nur der Grund, dass sie ihm geglaubt hat.
Damals, als er ihr von seinem kleinen Geheimnis erzählt hatte, dachte sie, er würde ihr in seinem Alkoholrausch nur lügen erzählen, doch das war der Beweis für alles, was er ihr erzählt hatte.
Auch wenn er sehr viel getrunken und sehr gelallt hatte, hatte er ihr doch genau geschildert, was er derzeit Trank, beziehungsweise, von was er sich ernährte. Ebenfalls den Grund, wieso er sich nicht in der Sonne aufhalten darf und dass sie ihn nie in einem Spiegel sehen würde.
Da sie ihm natürlich nicht geglaubt hatte, hatte er ihr seine spitzen Zähne gezeigt, sich vor einen Spiegel gestellt, wo nur sie zu sehen war und sie seine kalte, blasse Haut berühren lassen.
Vor Schock war sie wieder ganz nüchtern geworden und hatte sofort die Bar verlassen, doch er folgte ihr.
Ein paar Wochen später trafen sie sich wieder, sie hatte Fragen gestellt und beantwortete sie lässig.
Auf die Frage, ob er sie aussaugen würde, hatte er ruhig geantwortet:
„Ich trinke kein Menschenblut, nicht von lebenden, und dich würde ich sowieso nicht anrühren, dafür liebe ich dich zu sehr."
Langsam kam er näher zu ihr, seine braun-schwarzen Locken viele ihm ins Gesicht und seine braun-grünen Augen glänzten.
Sie zuckte zusammen als seine eisigen Hände ihre Handgelenke umfassten, doch sie hielt still, als er ihre Lippen zärtlich berührte. Doch nach allem, was er ihr gesagt hatte, was passiert war, der Schock mit der Schusswunde und das Wissen, dass er ein Lebendtoter war, verhinderte, dass sie diesen Moment genießen konnte.

Mit den Worten "So hätte es vielleicht sein können, weißt du? Ich hätte menschlicher sein können, nicht so wie jetzt, nicht so monströs...
Vielleicht hätten wir uns ja wirklich so kennengelernt, in deinem Land, anstatt in meinem, natürlich ohne die Schusswunde und deinen Schock... Es hätte alles anders laufen können, aber so ist es leider nicht..." entlässt er uns beide wieder in die Realität.
Total überfordert stehe ich still, weiß nicht was ich davon halten soll, was das jetzt für uns bedeutet.
Als ich bemerke, dass seine Hand noch immer auf meiner Wange ruht, zucke ich zusammen und weiche vor ihm zurück.
Mit erhobenen Händen macht er ebenfalls ein paar Schritte rückwärts, wahrscheinlich um zu signalisieren, dass er nicht gefährlich ist.
Irgendwie dezent ironisch...
Er scheint meinen Blick bemerkt zu haben und beginnt wieder zu sprechen:
"Okay, alles okay... Aber ich möchte ehrlich zu dir sein, während du nicht da warst, lernte ich jemanden kennen, einen jungen Mann, wir haben uns geküsst und man kann auch sagen, dass wir uns geliebt haben."
Völlig sprachlos steht mir der Mund offen. Dann jedoch brodelt mein Zorn über:
"Ist das dein Ernst?! Kaum hast du mich nicht mehr, suchst du dir jemanden anderen?! EINEN MANN! Hast du vergessen, dass WIR zusammen gehören?! Von wegen du hast nach mir gesucht!"
"Hey, das ist kein Grund gleich so auszurasten! Außerdem: ich lebe schon JAHRTAUSENDE, woher willst du wissen, dass du die ERSTE Frau in meinem Leben bist?!"
Es ist überdeutlich, dass er seine Worte sofort bereut und sie am allerliebsten für immer unausgesprochen gelassen hätte, doch es ist zu spät, dass kann ich ihm wirklich nicht mehr verzeihen und schreie mit Tränen in den Augen:
"Wie kannst du nur sowas zu mir sagen?! Ich dachte du LIEBST mich, verdammt! Und nur mal so: du kannst nicht jemand sein, DER DU NICHT BIST! Entscheide dich endlich!"
Jetzt ist sein Gesicht kalt und verschlossen:
"Gut, hier hast du was du willst: ich bin kein Mensch, ich bin ein Vampir!"
Mit diesen Worten verschwindet er blitzschnell tiefer in den Wald und lässt mich ein weiteres Mal alleine zurück.
Er wird mir auch nicht mehr verzeihen...

Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt