Tag für Tag bekomme ich Essen, Trinken, und ein Stück der Wärme, die aus meinem Körper geflüchtet ist.
Ich bewege mich nicht, stehe nicht auf, laufe nicht, denn mich hat schlicht und ergreifend meine Kraft und mein Mut verlassen. Was bringt es zu versuchen aufzustehen, wenn man weiß, dass man sein Ziel doch sowieso nicht erreichen wird.
So geht es mir jetzt.
Ich bin immer noch ganz alleine und vermisse Jonas so sehr, doch ich werde ihn wohl nie wieder sehen.
Doch irgendetwas oder irgendwer verhindert auf mysteriöse Weise, dass ich sterben kann. Also lebe ich weiter, esse, trinke, doch reden tue ich nicht mehr und meine Augen sind leer.
Doch eines Tages ist er da, mein Retter, der mich am Leben hält. Es ist ein seltsam blasser Junge, mit Augen wie aus Eis, und blondem Haar, das wie mit Raureif überzogen aussieht.
Vorsichtig kommt er näher, wieder mit einer Schüssel mit Wasser und einer mit einem Brotlaib, der komischerweise immer frisch und warm ist. Behutsam kniet er vor mir nieder, reicht mir beides und zieht sich einige Meter zurück, damit ich mein Mahl in Ruhe verzehren kann.
Obwohl meine Mundwinkel diese Bewegung schon lange nicht mehr getan haben, lächle ich ihn an, denn irgendetwas an diesem Augenblick schenkt mir kurze Freude und Hoffnung.
Doch ich sage nicht danke.
Mindestens vier Mal am Tag, und sogar nachts, besucht er mich, bringt mir meine kleinen Geschenke und wärmt mein Herz.
Doch dann hat er einen Plan: er will mich laufen sehen.
Bevor er mir die Lebensmittel reicht, zwingt er mich jetzt jeden Tag aufzustehen und ein paar Schritte zu laufen, bis es sogar mehrere Meter sind, die ich bewältigen kann.
Anfangs bin ich sehr wackelig und falle in seine starken Arme, doch er fängt mich auf. Einmal mache ich das sogar absichtlich und anstatt dass er mich von sich wegstößt, schließt er seine Arme um mich und ich lege meinen Kopf an seine Schulter.
Ich bin nicht mehr alleine.
Wir beide sind nicht mehr alleine.
Und trotzdem lässt mich die Trauer nicht los, die der Verlust des Vampirs in mir hinterlassen hat.
Warum nur haben wir gestritten, warum nur habe ich mich von ihm getrennt?! Vermisst er mich vielleicht genauso? Was er jetzt wohl treibt? Sucht er nach mir?
Ich vermisse ihn so sehr!
Doch wenn der andere Junge da ist, vergesse ich meinen Kummer und meine Sorgen und bin für einige Momente sogar irgendwie glücklich. Ich genieße seine Nähe, da irgendetwas tief in mir sagt, dass er seit jeher der erste Mensch ist, der sich so wirklich um mich gekümmert und sich um mich bemüht hat.
Da bin ich mir ganz sicher, trotz des Verlusts meiner Erinnerungen. Hatte ich überhaupt Eltern? Vielleicht sogar Geschwister?
Ich habe keine Ahnung.
Ohne es wirklich zu wollen, zieht mich die Frage nach meiner "richtigen" Familie in ein tiefes Loch aus Trauer und Melancholie. Jonas hat mir nämlich irgendwann gesagt, dass ich adoptiert sei, beziehungsweise dass er mich eines Nachts bewusstlos vor seiner Treppe liegend aufgefunden hat.
Also bin ich ein Findelkind...
Nicht einmal die Besuche des Jungen aus Eis können mich aufmuntern, meine Muskeln bilden sich in Windeseile zurück und verlieren ihre Kraft.
Die Übungen kann ich gar nicht mehr absolvieren.
Selbst wenn mich mein Helfer auf die Beine stellt, klappen diese spindeldürren Dinger nutzlos ein und ich sinke wieder auf den kalten Waldboden.
Dann sieht er mich jedes Mal traurig an.Es ist Mitternacht und der Vollmond hüllt mich in sein strahlendes Licht.
Meine Augen fallen mir immer wieder zu, doch da ich spüre, dass irgendetwas Wichtiges ansteht, versuche ich sie zwanghaft offenzuhalten. Und so ist es auch: auf leisen Sohlen schleicht ein riesiges Untier am Rand der Lichtung umher und schaut genau in meine Richtung. Es ist ein Schneeleopard, deren Fell komischerweise im Mondlicht reflektiert, so als wäre es aus purem Eis oder Glas.
Während er seinen Weg fortsetzt, und tatsächlich zu mir kommt, beginnt es auf mysteriöse Weise zu schneien. Alle Bäume, Sträucher und sogar der Boden werden von dieser Pracht bedeckt.Diese kleinen, tanzenden Schneeflocken funkeln wie Diamanten, im Hintergrund leuchten die Sterne und lassen den Nachthimmel erstrahlen.
Staunend beobachte ich das grandiose Lichtspiel von Mondstrahlen und Schneeflocken, welches diesem Winterbild eine unheimliche Stimmung verleihen, während eine angenehme Gänsehaut meinen ganzen Körper erfasst.
Jedoch habe ich keine Angst, denn irgendetwas an den Bewegungen des Tieres kommt mir seltsam bekannt vor.
Dann funkeln seine eisblauen Augen.
Es sind die Augen des Jungen, der mich versorgt, auch wenn er jetzt ein Raubtier ist.
Warum auch immer.
Er bleibt auf halbem Weg stehen, fixiert mich und versucht genau in meiner Mimik zu lesen, wie ich auf ihn reagiere.
Ich bin ganz still und warte auf seine Ankunft.
Dann ist er tatsächlich ganz nah bei mir, neigt leicht den Kopf, als würde er sich von mir verbeugen, und setzt sich mit einigen Metern Abstand in den Schnee.
Keine Pfotenabdrücke sind hinter ihm zu sehen.
Mit zitternder Hand taste ich nach seinem Pelz, der überraschender Weise nicht hart oder kalt ist, sondern weich und flauschig. Als ich das riesige Tier hinter den Ohren kraule, rumpelt tatsächlich ein tiefes, zufriedenes Schnurren in seiner Brust. Ich kann nicht anders: ich muss das erste Mal nach sehr sehr länger Zeit herzhaft lachen, bis ich mir vor Schmerzen den
Bauch halten muss.
Aller Kummer ist vergessen und mein Herz ist leicht.
Auch das Schnurren klingt wie ein Lachen und die Mundwinkel des Tieres sehen aus wie ein Lächeln.
Von der Situation geleitet schmiegt sich die Riesenraubkatze ganz nah an mich...
Komplett erschreckt, als hätte man ihm einen Schock mit einem Elektroschocker verpasst, springt das Tier einige Meter in die Luft, verwandelt sich währenddessen und landet als komplett verstörter Junge auf allen Vieren.
Er hat mich gewärmt...
Kopfschüttelnd wiederholt er die ganze Zeit:
"Das kann nicht sein, das kann nicht sein..."
Zu schnell für meine Augen verwandelt er sich wieder in den aus Eis bestehenden Schneeleoparden, schaut mich schuldbewusst an und verschwindet dann.
Ich kann nicht einmal "Tschüss" sagen...Doch ich bin nicht alleine.
Ebenfalls am Rande der Lichtung stehend hebt sich der Schatten einer dunklen Gestalt von den Bäumen ab, hinter denen sie verborgen ist.
Alles wird in Finsternis gehüllt, während der Wind kräftig zu heulen beginnt und mir einen gewaltigen, unangenehmen Kälteschauer über den Rücken jagt.
Rote, glühende Augen starren mich erbarmungslos an.
Wie ein Sturm fliegt dieses Ungeheuer direkt auf mich zu und presst mich mit voller Gewalt an einen nächstgelegenen Baumstamm.
Die Augen und das Gesicht des Vampirs sind leer und ausdrucklos.
Ich spüre die Rinde äußerst schmerzhaft in meinem Rücken, doch sein Körper lässt mich nicht vorbei, seine Arme sind auf beiden Seiten meines Kopfes abgestützt. Als er mich küsst, schmecke ich das Blut an seinen Lippen, es fühlt sich an als würde es meinen Mund ausfüllen und ich müsse es irgendwie loswerden, aber ich halte Still, schreie nicht, breche nicht.
Dieses Gesicht, besser gesagt diese Fratze, ist nicht mehr dieses liebevolle, besorgte, welches mein Geliebter einst getragen hat!
Dieses Wesen ist ein Dämon, ein Monster.
Doch dann lässt er von mir ab, starrt mich mit seinen Glühaugen an und verzerrt seinen Mund zu einem Grinsen.
Blutfäden spannen sich in seiner Mundhöhle.
Ich habe Todesangst.
Anstatt dass er mich tötet, gibt er mich frei, doch ich ahne, dass ein finsterer Plan dahintersteckt.
Genauso schnell wie er gekommen ist, ist er wieder weg.
Zitternd und keuchend falle ich in Ohnmacht.
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Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*
VampireAnfangs bin ich wie tot, ausgelaugt und geschwächt von den Kämpfen zwischen mir selbst und der Macht, die in mir haust und mich zu dem gemacht hat wer bzw. was ich jetzt bin - ein Vampir. Doch dann kam sie, meine Kerze, mein Licht in der Dunkelhei...