28. Kapitel:

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Es hat tatsächlich funktioniert. Nach wenigen Minuten bin ich völlig weggetreten. Wie kann das sein? Bin ich wirklich so schwach, dass mich diese bezaubernde Stimme einschläfern kann?

Ich träume. Erst ist alles weiß und leer, dann tauchen dunkle, graue Bäume auf und es herrscht schwarze, neblige Nacht. Ein Haus steht plötzlich vor mir, deren Fenster erloschen sind. Der Mond scheint schwach auf den Waldboden.
Ich stehe hinter einem riesigen Baum und scheine mich vor den Hausbewohnern verstecken zu wollen. Warum? Was will ich hier? Ist das eine Erinnerung?
Unsicher drehe ich mich um meine eigene Achse bis ich wieder auf das Haus blicke. Was soll ich hier? Was hat das zu bedeuten? War ich wirklich schon mal hier? Daran erinnern kann ich mich nicht.
Sicherer gehe ich aus dem Wald hinaus in Richtung des dunkel wirkenden Gebäudes. Als ich kurz vor der Tür stehen bleibe, lege ich den Kopf in den Nacken und starre empor, dann umhüllt mich das Mondlicht mit seinen Strahlen und ich löse mich auf und werde von ihnen bis zum Balkon getragen, wo ich meine Gestalt, meine feste Struktur, wieder erlange. Verwirrt lehne ich mich gegen die Brüstung und betrachte den erdigen Boden. Was mache ich hier?
Etwas regt sich im Zimmer hinter der Glasscheibe. Instinktiv weiß ich, dass sie zu dick ist um Geräusche durchzulassen, trotzdem höre ich es. Meine Hände legen sich auf das Glas und ich beobachte aufmerksam das Innenleben dahinter. Eine Person schläft, die andere sitzt aufrecht im Bett und schaut schweigend in meine Richtung, ohne den Anschein zu erwecke als könne sie mich sehen, bemerkt hat sie mich komischerweise trotzdem. Als wäre es das normalste der Welt gehe ich durch das Hindernis hindurch und stehe im Zimmer. Erst jetzt sieht mich die Gestalt richtig, kein Wunder, denn das Mondlicht zeigt deutlich meine Anwesenheit. Das Kind im Bett ist ein 12-jähriger Junge mit kurzen, braunen Haaren und ebenso braunen Augen der mir forsch entgegen blickt. Droht er mir etwa? Selbst wenn, weiß er denn nicht wer bzw. was ich bin? Weiß er nicht, dass sein Genick eine Kleinigkeit für meine Kraft ist? Weiß er nicht, dass ich ihn in Null-Komma-Nichts in Stücke reisen könnte? Scheinbar nicht. Irgendwie gefällt mir seine unerschrockene Art, man könnte fast meinen sie imponiert mir, denn irgendwie sind wir uns ähnlich. Beide haben wir das Gesicht des anderen fixiert, was mir ermöglicht in seinen Augen die gleiche Neugier sehen zu können, die man wahrscheinlich auf in meinen sieht, trotzdem ist sein Gesicht starr und ernst. Der Ausdruck von Neugier verschwindet und weicht den gleichen Regungen, die man in seiner Mimik lesen kann. Da er meine Rolle übernommen hat, ernst und starr zu blicken, löst sich die Meine in ungekannter Traurigkeit auf, zusätzlich fühle ich mich sehr müde. Plötzlich ist mir, als würde ich die Wärme spüren, die ihm seine schlafende Mutter schenkt und mir wird übel vor Einsamkeit und seelischem Schmerz.
Unkontrolliert wünsche ich mir die Anwesenheit der Macht, und tatsächlich, sie kommt, obwohl ich nicht damit gerechnet habe, dass sie da ist. Ihre für die Menschen unsichtbare Gestalt löst sich von meinem Körper und steuert unverzüglich auf das Kind zu, auf dessen Brustkorb sie sich mit vollem Gewicht drauf setzt und ihn mit Wut verzerrten und hasserfüllten Gesicht brutal würgt. Ich kann mich nicht rühren, denn mir ist als wäre es mein Körper, dem sie die Luft raubt. Bevor ich bewusstlos zu Boden sinken kann nimmt mich das Mondlicht wieder auf und lässt meinen nicht mehr existierenden Körper in die Nacht fallen. Erst war ich Mondlicht, jetzt bin ich Nacht, weit entfernt von irgendeinem Leben, doch langsam kehrt die Form und die Festigkeit meines Körpers zurück und ich stehe wieder auf dem Boden, wo ich mich ganz am Anfang wiedergefunden habe. Alles scheint so zu sein wie zuvor, doch dann fallen mir einige Unterschiede ins Auge: Ich stehe jetzt auf einer verlassenen Lichtung, die Bäume sind immer noch da, jedoch umzingeln sie nur diesen leeren Ort, anstatt wie zuvor fest verwurzelt auf ihm zu stehen. Nur ein einziger, umgefallener Stamm liegt neben mir. Er ist dunkel und grau wie alle anderen und wird ebenfalls von Mondlicht beschienen. Das Haus ist verschwunden. Der Himmel ist nicht mehr schwarz, sondern blau. Die Macht ist die Herrscherin meines Traumes. Sie ist zurückgekehrt und auf dem Vollmond erscheint ihr Gesicht, das mich selbstgefällig angrinst. Ich fühle Wärme und Zuneigung in mir aufsteigen, trotzdem auch eine Spur von Unbehagen. Ich sage ihr nur das Erstere und das Lächeln auf ihrem Gesicht verwandelt sich in eines voller Liebe und Zuneigung. Wie eine Sternschnuppe fällt sie vom Himmel, landet aber trotzdem elegant und leichtfüßig vor mir, anstatt wie eine wirkliche Sternschnuppe mit voller Wucht in den Boden zu Krachen. Erstaunt frage ich: "Was machst du denn hier?" Mit der gleichen Gefühlsregung mustere ich sie genauer.

Seelengift *komplett fertig/wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt