Verzweiflung macht sich breit...

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***Tyler***

Das Warten würde mich noch umbringen, soviel war klar. Die schmerzenden Stunden des Wartens, in denen wir uns alles andere als gewiss sein konnten, das Daniel überleben würde.  In diesen 4 Stunden fühlte ich mich, als wäre ich um Jahrzehnte gealtert. Unsere Eltern schickten mich zum Bad, damit ich mich einmal frisch machen konnte, um nicht sofort einzuschlafen, obwohl ich in dieser Situation niemals einschlafen könnte. Noch immer war niemand zu uns gekommen, hatte uns nicht aufgeklärt. Wir wussten nur, dass er eine Herzrhythmusstörung hatte und deswegen jetzt operiert wurde. Unsere Eltern hatten die Einverständniserklärung wohl schon vorher unterschrieben.

Auf dem Weg zum Bad sah ich viele verzweifelte Familien, hektische Ärzte und gelangweilte Krankenschwestern an der Rezeption. Im Bad schleuderte ich mir erstmal eine deftige Portion eiskaltes Wasser ins Gesicht, doch aus meinem tranceartigen Zustand kam ich einfach nicht heraus. Meine Sinne waren wie vernebelt. Nichts nahm ich mehr kompetent wahr.

Alles verschwamm vor meinen Augen und wie eine Welle überschwemmten mich die Emotionen wieder. Trauer, Wut, Verzweiflung, aber auch Glück, dass ich ihn wenigstens diese 2 Monate nochmal bei mir haben konnte. Das war so unfair. Wieso hatte er diesen Herzfehler? Wieso nicht ich? Er war eine viel zu gute Person, als das er das verdient haben könnte.

Ich brach am Waschbecken zusammen und hielt nur noch schützend meine Hände vor meinen Kopf, um nicht mit diesem aufzuschlagen.

Es kam alles auf einmal zurück. Meine Entführung. Ich hörte noch wie Daniels klare helle Kinderstimme mir zurief und mich in die Erinnerung zog.

"Tyler ich finde dich! Du kannst dich nicht ewig verstecken!" rief er glücklich mit seiner Glockenstimme. Wir waren mit unseren Eltern in den Park gegangen, denn wir feierten unseren Geburtstag immer hier. Das darauffolgende Wochenende kamen dann immer unsere Freunde.

Wie jedes Jahr bis jetzt, spielten wir Verstecken und ich war dran mit verstecken.

Ich rannte weg, weiter in den Park, zwischen die Bäume. Ich schaute nicht nach vorn, nur lachend zurück um zu sehen, wie dicht mein Zwilling mir schon war. Ich stolperte über eine Wurzel und fiel. Mein Knie tat weh und ich versuchte aufzustehen. Wacklig kam ich auf die Beine, ging um den Baum rum, um mich daran anzulehnen und mich kurz auszuruhen. Ich setzte mich also und wartete auf Daniel. Aber nicht Daniel war es der mich fand, sondern 2 große Männer.

"Hey Kleiner. Was machst du denn hier so ganz alleine?" sprach mich einer von ihnen an.

"Ich spiele mit meinem Bruder Verstecken." erzählte ich ihm freudig.

"Achso. Sollen wir dir mal ein Versteck zeigen, dass so gut ist, das er dich gar nicht finden wird?" fragte der Mann mit einem Grinsen. Meine Augen fingen an zu glänzen. Er wollte mir helfen, natürlich sagte ich nicht nein!

Ich sprang auf und sagte noch: "Ja. Wird er mich dann wirklich nicht finden?"

"Ganz sicher nicht!" meinte nun der Andere, nahm mich auf den Arm und trug mich zu einem schwarzen Geländewagen.

"Aber Mommy und Daddy haben gesagt, ich darf nicht zu weit weg." klärte ich sie auf.

"Keine Sorge, wir bringen dich nicht zu weit weg. Nur so weit, dass dein Bruder dich nicht findet. Und damit es für dich eine Überraschung wird, bekommst du diese Augenbinde, ok?" fragte mich der Typ mit kindlicher Stimme und ich klatschte begeistert in die Hände. Ich meine Hallo? Eine Überraschung! Wer könnte da widerstehen? 

Hätte ich mal widerstanden! Hätte ich nach vorne geguckt, dann wäre ich nicht gefallen, dann hätten sie mich womöglich nicht gefunden, doch wer garantiert mit, dass sie dann nicht Daniel mitgenommen hätten?

Das Versprechen von Aaron.

"Kleiner. Ich verspreche dir, das deiner Familie nichts geschieht, wenn du nicht noch einmal versuchst abzuhauen. Klar? Wenn du dich wehrst oder nochmal abhaust, kann ich nicht versprechen, dass wir deinen Bruder in Ruhe lassen. Klar?" herrschte Aaron mich an.

Vor einer Woche war ich ihm entwischt. Ich konnte noch immer nicht richtig sitzen. Die Strafe war das schlimmste gewesen, was ich jemals durchmachen musste. Ich hatte nur geheult, geschrien, geschluchzt. Es tat so weh!

Ich nickte, da ich meinem Bruder das alles ersparen wollte. Niemals sollte er dasselbe durchmachen, wie ich. Ich entschloss, den Schmerz zu verbannen. Ihn in die hinterste Ecke zu schieben, die mein Gehirn bereithielt. Niemals wieder wollte ich ihnen die Genugtuung verschaffen, mich noch einmal so schwach zu sehen.

Unbewusst hatte ich angefangen zu schreien. Die Badtür wurde aufgebrochen und viele entsetzte Ärzte und Krankenschwestern standen davor, die geschockt auf mich niederblickten. 2 Männer hoben mich hoch und brachten mich in ein Krankenzimmer. Die Erinnerungen waren zu präsent, als das ich darauf achten könnte. Sie spritzten mir irgendwas und ich beruhigte mich langsam. Die Erinnerungen verblassten und ich hörte auf zu schreien und weinen.

Jetzt kam langsam die Realität zurück. Daniels Operation! Oh nein. Ich hatte ihn im Stich gelassen, schon wieder! Ich versuchte aufzustehen um meinem Zwilling beizustehen, doch die Ärzte drückten mich auf die Matratze zurück.

Im nächsten Moment stürzten dann auch meine Eltern in den Raum und rannten mit tränenüberströmten Wangen zu mir.

Wir machten ihnen ganz schön viel Stress. Erst die Entführungen, jetzt das, obwohl sie noch nicht einmal wussten, was wir hatten durchmachen müssen. Wir erzählten nichts. Wir konnten nicht, waren nicht so weit.

Einer der Ärzte kam auf uns zu und fing an zu sprechen.

"Daniels Herz ist während der Operation ausgesetzt und wir haben eine Wiederbelebung eingeleitet. ...

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Ich weiß, es ist mies da aufzuhören, doch ich dachte mir, ich spanne euch noch ein wenig auf die Folter.

Wird er überleben?

Stiller Schmerz (BxB) *Überarbeitung pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt