Normalität? Noch lange nicht...

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***Daniel***

Er war sofort wieder eingeschlafen. Tyler sah so schrecklich aus. Aaron hatte ihn so tief geschnitten. Nun war er gezeichnet, für alle Tage. Auch ich war das, doch es war nur ein Buchstabe an meinem Oberarm, wovon wahrscheinlich nur eine kleine Narbe bleiben würde, doch Tylers Wunden waren tief. Sie sahen echt böse aus.

Auf seinem Rücken fand sich nicht nur ein Wort sondern auch ein Symbol. Schwimmen gehen konnte er wohl nicht mehr ohne angestarrt zu werden, aber das wäre vorher auch nicht gegangen, bei den vielen Narben, die seinen Körper zierten.

Unsere Eltern waren so schockiert gewesen, als sie ihn gesehen hatten. Sofort hatten sie mich mit Fragen bombardiert und ich musste ihnen alles erzählen, doch da ich selbst noch nicht darüber reden konnte hatte ich nur wage Antworten gegeben. Sie hatten beschlossen mich zu einem dieser Seelenklempner zu schicken, zu dem auch Tyler sollte, wenn er aus dem Krankenhaus kam, was aber noch so einige Zeit dauern könnte.

Diese 3 Wochen ohne ihn, in denen ich nur an seinem Bett sitzen konnte und darauf hoffte, er würde aufwachen, waren die schlimmsten in meinem ganzen Leben gewesen. Sogar schlimmer als die Wochen in meiner persönlichen Hölle. Nicht zu wissen, ob mein Zwilling überleben würde, war noch schlimmer als ihn all die Jahre zu suchen und nichts über seinen Verbleib zu wissen.

Diese Wochen hatte ich immer Albträume davon, wie wir alle wieder in dieser Hölle steckten. Regelmäßig wachte ich schreiend, weinend und schweißgetränkt auf, konnte meinen Eltern, die mich dann beruhigten, nicht sagen, warum.

Mehrere male hatte ich während dieser Zeit schon die Klinge in der Hand gehalten, doch ich wollte einmal in meinem Leben so stark sein, wie mein Zwilling. Für ihn stark sein, es für ihn überstehen.

Ich war so erleichtert gewesen, als er aufgewacht war.

Unsere Aussagen wurden bei der Polizei schon aufgenommen, nur Tyler musste seine noch machen. Die Werter waren alle in Untersuchungshaft, auch Thomas, wegen dem Fehlen von Tylers Aussage. Vor ein paar Tagen allerdings hatte man uns verkündet, Aaron und Andreas hätten Thomas wegen Verrat erschlagen. Wir waren sehr getroffen, denn wir hatten es auch ihm zu verdanken jetzt hier zu sein. Sie hatten ihn umgebracht, weil er uns geholfen hatte. Rein theoretisch lastete ein Menschenleben auf mir. Ich hatte Blut an meinen Händen und fühlte mich so schuldig. 

Ich wurde aus meinen unendlichen Gedanken geholt, als meine Eltern mich ansprachen. Ach ja. Meine erste Sitzung beim Seelendoktor stand an.

Als ich in den Raum trat, stand dort ein relativ junger Mann, der mich freundlich anlächelte. Er hatte karamellfarbene Haare, einen drei-Tage-Bart und blaue Augen. Eigentlich ganz süß.

"Ich bin Dr. Charles. Setz dich doch bitte. Ich darf dich doch duzen oder?" fragte er höflich und zeigte auf eine übelst bequem aussehende Couch. Ich setzte mich und antwortete langsam. "Ja dürfen sie. Ich bitte sie aber um eine Sache. Bitte fragen sie niemals: 'Und wie haben sie sich dabei gefühlt?', denn dann muss ich sie leider auslachen und das wäre sehr unfair ihnen gegenüber."

Perplex starrte er mich an, fing sich aber nach einiger Zeit wieder und setzte zu einer Antwort an.

"Ok. So altmodisch bin ich nicht, aber danke für die Ehrlichkeit. ... Fangen wir damit an, dass sie mir erzählen, wozu sie bereit sind und ich höre zu. Einverstanden?"

Damit hatte wiederum ich nicht gerechnet und nickte nur leicht roboterartig mit dem Kopf.

Und so fing ich dann auch an zu erzählen.

"Mein Zwilling wurde entführt, da waren wir 6 geworden. Es war an unserem Geburtstag. Es hat uns alle sehr mitgenommen. Meine Mutter hat sich in ihre Arbeit gestürzt, sie war kaum noch zu Hause. Mein Vater dagegen hat sich einmal fast erhängt, ich habe ihn dann gefunden bevor er es tun konnte und dann hat er sich noch einmal fast die Pulsadern aufgeschnitten. Auch da habe ich ihn gefunden und gerade noch rechtzeitig Hilfe geholt. Vor 2 Monaten ungefähr, kurz vor unserem 17. Geburtstag, wurde ich dann auch entführt. Ich hab dann Tyler wieder getroffen. Er hat das alles 11 Jahre mitmachen müssen." ich hatte bei meiner Erzählung angefangen zu weinen und auch in den Augen des Doc schimmerten Tränen. Mehr konnte ich nicht erzählen. Er schien es zu merken und nahm mich ohne etwas zu sagen in den Arm. Obwohl ich ihn nicht kannte, kuschelte ich mich in seine Arme und ließ den Tränen freien lauf. Es war genau das, was ich gerade brauchte. Einfach mal keine Worte, sondern Geborgenheit. 

Stiller Schmerz (BxB) *Überarbeitung pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt