Ich öffnete meine Augen und wünschte in das Gesicht meines Engels sehen zu können, doch das wird mir nie wieder möglich sein. Mit stummen Tränen auf den Wangen machte ich mich auf den Weg, meine Eltern zu suchen. Die ganze Zeit hatte ich sie kaum beachtet, nur meinen Bruder, den Mittelpunkt meines Lebens gesehen. Obwohl ich ihn so schrecklich vermisste und diese gähnende Leere in meinem Inneren sich ausweitete, war es schön zu wissen, dass er nun keine Schmerze hatte. Er hatte alles hinter sich gelassen und mich, einen einsamen, verlassenen, gebrochenen Jungen, zurückgelassen.
Ich lief durch das Krankenhaus, von dem ich mittlerweile nicht mehr wusste, wie lange ich schon hier war, und suchte meine Eltern. Ich fand sie tatsächlich übermüdet in der Cafeteria. Sie aßen Frühstück und wirkten um Jahrzehnte gealtert. Als sie mich erblickten, erhellten sich ihre Augen, füllten sich aber gleichzeitig auch mit Tränen der Trauer und des Verlustes. Es musste schlimm für sie sein, mich zu sehen, denn wir sahen fast identisch aus.
Meine Mutter war aufgestanden und kam mir entgegen. Ich lief weinend in ihre Arme und ließ mich von ihrer schützenden Wärme einfangen, die die Kälte in meinem Herzen ein wenig zurückdrängte. Nach unendlichen Minuten der Stille umfingen uns auch die Arme meines Vaters. MEINES Vaters. So ungewohnt, sonst hatte ich immer stolz UNSERES Vaters sagen können, doch er war nicht mehr da.
"Er ist wirklich weg oder?" fragte ich leise schluchzend.
"Ja Schatz. Aber er bleibt immer bei dir! Und zwar hier drinnen." flüsterte mein Vater und legte seine Hand auf eine Brust, worunter sich mein stark pochendes Herz finden ließ, von dem ich hoffte es würde, statt dem meines Engels, nicht mehr schlagen, doch anscheinend dachte es gar nicht daran mir diesen Wunsch zu erfüllen, denn es schlug stärker als jemals zuvor. Ich nahm das als Zeichen, dass es jetzt auch für meinen Zwilling mit schlug und ihn somit am Leben hielt. Es war eine schöne Vorstellung!
"Schatz ich weiß es fällt dir schwer, aber wir müssen die Beerdigung planen. Willst du etwas besonderes."
War ich schon bereit, Abschied zu nehmen? Ihn endgültig gehen zu lassen? Nein! Aber eigentlich würde ich seine Seele immer bei mir behalten. Er würde immer bei mir sein, oder?
"Ich will, dass sein Körper nicht in die Erde kommt! Gibt es da was anderes? Seine Asche zum Beispiel ... naja, fliegen zu lassen?" fragte ich mit leiser Stimme.
"Sicher geht das irgendwie!" meinte meine Mutter überrascht.
"Warum willst du das denn, Großer?" fragte nun auch mein Vater etwas überrumpelt.
"Ich weiß nicht. Dann kann ich mir besser vorstellen, dass er da oben auf mich aufpasst." antwortete ich gedankenverloren.
"Schöner Gedanke Schatz!" sagte meine Mutter unter Tränen.
So standen wir also in dem Krankenhaus, uns aneinander festhaltend um zu vergessen, dass wir gerade an unsere Grenzen gelangten, um uns zu erinnern, das noch jemand da war, der dasselbe Leid hatte. Weinend klammerten wir uns an die verbleibenden um zu verdrängen, was für ein schweren Verlust wir erlitten hatten.
***
Ein paar Tage hatten wir die Beerdigung geplant und hatten unseren Alltag gefunden. Ich ging zum Psychologen, doch ich erzählte nie etwas. Immer der gleiche Tagesablauf, immer das selbe, bis ich an diesem Morgen aufwachte, denn heute würde Daniels Körper eingeäschert werden und dann würden wir an die Klippe fahren, ihn frei lassen, wie einen Vogel. Wir würden ihn ziehen lassen, ihn loslassen. Die letzten Tage hatte ich kein Wort gesprochen, außer ich war mit etwas nicht zufrieden, was die Beerdigung anbelangte, denn ich wollte seinen Abschied perfekt gestalten, ihn nicht einfach 'ausschütten', sondern seine verbleibende Teile in den Himmel hinauffliegen lassen.
Ich hatte auch nicht gelächelt, es noch nicht einmal versucht. Viel geweint hatten wir alle, um ihn! Nur um ihn. Zu früh war er gegangen, doch ich wollte ihm wenigstens diese letzte Ehre erweisen.
Seine letzten Wünsche hatte ich versucht zu erfüllen und bis auf diese beiden Letzten hatte ich es geschafft, doch ich wollte mich niemandem öffnen oder auch nur mit jemandem reden.
Den Kontakt zu Sven, Ruben und Andy hatte ich bis auf ein paar Besuche fast gänzlich abgebrochen, denn ohne Daniel fehlte jemand in unseren Kreisen. Es war einfach nicht mehr das Selbe.
Ich schleppte mich ins Bad und versuchte einigermaßen wach zu werden, doch dieser Tag würde einer der schrecklichsten in meinem ganzen Leben werden. Anschließend ging ich in die Küche und machte mir etwas zu essen. Seit Daniels Tod war Stille bei uns eingekehrt. Niemand sprach mehr ein Wort, doch abends lagen wir uns weinend in den Armen oder heulten uns unabhängig voneinander in den Schlaf. Doch auch in diesem spukte mein Zwilling, jede Nacht wiederholte sich sein Tod für mich. Ich war ausgelaugt und hoffte immer noch aus diesem Albtraum entfliehen zu können.
***
Nun standen wir da, beobachteten das Feuer, dass den Leblosen Körper meines Zwillings umfing. Es sah so spielerisch aus, doch ich wusste, das es das nicht war. Ein Visier wurde nun hinunter geschoben, mehr durften wir nicht sehen. Sicher eine gute Entscheidung.
***
Die Klippe. Hier hatten wir oft gespielt, oft gelacht und hier würde er seine Reise in den Himmel antreten. Nur wenige Leute waren hier, denn mehr wollte ich nicht dabeihaben. Unsere Eltern, seine Freunde, Ruben, Andy und Sven. Großeltern hatten wir schon lange nicht mehr, sie würden ihn wohl empfangen.
Meine Eltern hielten ihre Reden, die beide sehr ergreifend waren. Dann war ich dran. Mit schleppenden Schritten ging ich auf die Klippe zu und drehte mich dann zu den Anderen. Als ich meine Stimme erhob hielt die Zeit an.
"Mein lieber Bruder. Du warst so viel mehr als das für mich. Du warst mein Zwilling, mein zweites Ich, mein Engel! Du warst mein Ein und Alles! All die Jahre habe ich nur für dich gelebt, habe versucht dich zu beschützen, auch wenn ich nicht direkt bei dir war. Immer schon, warst du der Hübschere von uns, der Süßere, der Liebenswertere. Ich liebe dich mein Engel und ich hoffe, das dein Weg von nun an nicht mehr so schwer ist, wie er bis jetzt war. ..." Ich drehte mich zur Klippe und schaute in den Himmel. Es war als könnte ich ihn da oben sehen. "Weißt du noch? Bei unserer Geburt hast du mir den Vortritt gelassen, dann musstest du noch 3 Wochen im Krankenhaus liegen, denn sonst hättest du das wahrscheinlich nicht überlebt. Du kamst drei Minuten später auf diese Welt als ich und gingst viel zu früh. Ich wünschte, es hätte mich getroffen und nicht dich! Dennoch denke ich, das mein Herz immer noch für dich schlägt, wahrscheinlich stärker als jemals zuvor... Früher standen wir oft hier. Weißt du noch? Wir haben gespielt und ich musste dich davon abhalten zu nah an den Rand zu gehen. Und jetzt muss ich dich hier verabschieden. ... Es fällt mir so schwer!" Vereinzelte Tränen verließen meine Augenwinkel und rannen über meine Wangen. "Immer an unserem Geburtstag sind wir in den Park gegangen. Jedes Jahr und dann haben wir Verstecken gespielt. Als wir 6 wurden, kamen 2 Männer und meinten, sie wüssten ein Versteck, wo du mich nie finden würdest. Sie hatten nicht recht. 11 Jahre später. Auf den Tag genau, warst du wieder bei mir und hast mich gefunden. An dem Ort, an dem sie meinten, du würdest mich nie finden. Ich bin dankbar für diese letzten Monate und doch hätte ich gehofft, sie hätten recht gehabt und du hättest mich nicht gefunden, denn nur dadurch bist gegangen. ... Mein Engel, all die Jahre habe ich wegen dir weiter gemacht. Allein der Gedanke an dich, war wie ein Lebenselixiere für mich. Siehst du? Du warst schon immer mein Lebensmittelpunkt. .. Was soll ich denn jetzt machen? Diese Leere fordert gefüllt zu werden und doch habe nichts zum füllen, denn du bist nicht mehr da. ... Aber ich werde weiterleben. Das habe ich dir versprochen! Und das werde ich halten! ... Hab eine gute Reise und warte auf mich,... mein Engel!" Meine Sicht trübte sich und ich sank auf meine Knie.
Neben mich an die Klippe, setzten sich nach und nach auch alle anderen und wir weinten um einen guten Freund, einen Sohn, einen Vorbild, ein Bruder, einen Engel...
Wie findet ihr die Abschiedsrede? Ich habe beim schreiben geheult...
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Stiller Schmerz (BxB) *Überarbeitung pausiert*
Teen FictionMit 6 Jahren wurde ich aus meiner kindlichen Realität gerissen und sah eine der schrecklichsten Seiten des Lebens. Dies war mein neues Leben, mein Leben auf dem Sklavenmarkt. Der Kampf ums Überleben fristete mein Dasein 11 lange Jahre lang und mit d...