Schule

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Ich saß auch meinem Bett und schrieb in dem Tagebuch, welches ich vor einiger Zeit, also nach der Beerdigung, angefangen hatte. Denn ich hatte nicht die Kraft zu sprechen. Alles was ich dem Psychologen hätte erzählen sollen, schrieb ich darin nieder. Meine Vergangenheit, aber vor allem von meinem Zwilling. Allerdings schrieb ich nur 'Engel', da ich ihn damit viel besser verbinden konnte. Seit der Beerdigung hatte ich mit niemandem mehr ein Wort gewechselt. Ich hatte mich, wie früher schon, komplett zurück gezogen. Diesen Wunsch konnte ich Daniel einfach nicht erfüllen. So sehr ich es auch wollte, ich zog mich immer mehr zurück, verschloss mich. Und es gab nur 2 Gründe, warum ich mich nicht ritzte, erstens hätte ich ihm damit weh getan und mein Versprechen ihm gegenüber missachtet und zweitens war ich wieder so zurückgezogen wie die ganzen 7 Jahre schon. Ich fühlte es nicht und ich musste mich ja nicht noch hässlicher machen, als ich es schon war.

Manche dachten jetzt sicher: 'Aber er sah doch genauso aus wie du?'. Nein. Wir sahen nur für andere gleich aus. Er hatte besondere Augen, meine dagegen waren stumpf, ohne Glanz. Er schien zu leuchten und zu strahlen, so wie ich es früher auch ein wenig tat, doch nun war auch dieser kleine Funken erloschen. Ich war nie so hübsch wie mein Zwilling.

Alle meine Gefühle versuchte ich niederzuschreiben und auszudrücken. Eine große Wortvielfalt hatte ich zwar nicht, aber sie hatte sich schon vergrößert. Während ich schrieb, dachte ich wieder an sein Gesicht. Es war früher so voller Glück, er hatte geleuchtet. Dieses Funkeln hatte er in DEM Keller verloren. Während der Zeit im Keller hatte sich sein Gesicht verändert. Er war so lebensfroh gewesen, ja auch ein wenig naiv. Mit der Zeit wurde er immer trostloser. Er wirkte trauriger und hatte keinen Halt mehr. Ich hatte es nicht erkannt und hatte ihm keinen Halt gegeben. Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich es erkannt. Dann wäre er nicht gegangen. Dann hätte ich ihm Halt geben können.

Während des Schreibens hatte ich angefangen zu weinen. Die Tränen trübten meine Sicht und es war schwer die geschriebenen Worte zu erkennen. Eine Träne tropfte auf das Heft und das Wort verschwamm. Die Tinte breitete sich wässrig aus. Mit einem Taschentuch tupfte ich die salzige Flüssigkeit von dem Blatt.

Hätte ich ihn doch nur noch bei mir! Wäre ich doch nicht so blöd gewesen und hätte sein Leiden wahr genommen, hätte gesehen, wie tief dieses reichte.

Zur Schule wollten meine Eltern mich auch schicken. Ich hatte nichts dazu gesagt, wie auch zu allem anderen nicht. Also musste ich morgen das erste Mal in die Schule. Angst hatte ich keine. Mit Unterricht hatte ich bis jetzt gute Erfahrungen gemacht.

Ich legte das Heft weg, zog mich um und weinte mich, ohne Abendbrot gegessen zu haben, in den Schlaf. Morgen war ein besonderer Tag. Ich würde aus meinem gewohnten Tagesablauf gerissen werden...

***

Ein Wecker weckte mich und ich begann meinen Morgen. Ich stand auf, machte mich fertig und ging mit einem Rucksack und einem Apfel bewaffnet zur Schule.

Der Apfel war schnell aufgegessen und ich stand vor dem großen Gebäude.

Alle an denen ich vorbeikam, schauten mich an als würde sie gerade einen leibhaftigen Geist sehen. Sie tuschelten, doch ich ging einfach in das Gebäude, ignorierte alle und suchte das Sekretariat, von dem meine Mutter gesagt hatte, ich würde dort alles weitere erfahren.

Tatsächlich hatte ich erfahren wie das alles funktionierte und suchte nun meinen Klassenraum. Ich war in der alten Klasse meines Bruders, da ein paar seiner Freude dort drin waren und ich diese 'kannte'.

4 Monate waren seit unserem Geburtstag vergangen. Was in diesen alles schon passiert war...

Ich klopfte an die Tür, da der Unterricht schon angefangen hatte. Als ich ein 'Herein' hörte, ging ich in den Raum. Ein Tuscheln ging durch die Klasse und alle würden ganz blass und starrten mich geschockt an. Mein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Ich war müde und erschöpft, doch ich zeigte keine Emotionen nach außen hin. Sie waren abgeschottet hinter einer hohen Mauer.

"Aber... A-" weiter kam die junge Lehrerin nicht, denn einer von Tylers Kumpels sagte unter Tränen: "Tyler? Was machst du hier?". Ich sah ihn nur schweigend an und sagte kein Wort.

"Tyler?" fragte die Lehrerin verwirrt. Ich gab ihr den Zettel, den mir die Sekretärin für sie gegeben hatte.

"Ok... Du kannst dich dann hinsetzten. Am besten neben Steven." meinte sie etwas zerstreut.

Der Unterricht war gut. Ich lernte viel, doch anfangs wollte sie viel von mir wissen und über Daniel reden, doch mein Mund war wie zugeklebt. Kein Wort verließ meine Lippen. Der restliche Schultag war ähnlich. Von allen Seiten wurde ich angestarrt, als wäre Daniel wirklich von den Toten auferstanden.

Ich hielt das nicht länger aus und ging in der Mittagspause nach hause. Ich war doch kein Tier im Zoo, das man beglotzen konnte. Ich schrieb wieder in meinem Tagebuch. Ich hatte Gefallen daran gefunden. Es war wie eine Therapie. Es tat mir gut.

Abends nötigten mich meine Eltern, mit ihnen zu Abend zu essen. Ich hatte nie viel gewogen, da wir im Keller ja nur Brot und Wasser bekamen, doch jetzt hatte ich noch mehr abgenommen. Ich war 1,80 m groß und wog nur 45 Kilo. Viel zu wenig, doch ich hatte einfach keinen Hunger.

"Willst du nicht mal irgendeinen Sport machen? Vielleicht tut dir das ganz gut und dein Appetit kommt wieder? .. Willst du es nicht mal versuchen?" fragte meine Mutter besorgt, als ich schon wieder das Essen nach ein paar Happen verschmähte. Ich zuckte mit den Schultern und stocherte in meinem Essen herum.

"Wir werden umziehen!" beschloss mein Vater und meine Mutter und ich schauten ihn entsetzt an. Er wollte uns noch weiter von Daniel wegzerren, uns die Orte nehmen, an denen unsere Erinnerungen geprägt worden waren, an denen wir ihm Nah sein konnten. Er wollte ihn mir ganz entreißen!

"Niemals!" schrie ich, doch mein Vater setzte dagegen.

"Doch! So kann es nicht weitergehen! Das ist kein Leben mehr! Wir vegetieren hier vor uns hin und du wirst immer dünner! Ich lasse nicht zu, das mir auch mein zweiter Sohn genommen wird! Wir werden wegziehen! Basta!" schluchzte mein Vater und stand dann ruckartig auf, um den Raum zu verlassen.

"Ok..." schluchzte auch meine Mutter atemlos.

Ich konnte ihn verstehen, doch ich war noch nicht so weit, diese Orte zu verlassen, an denen wir als Kinder gespielt hatten. Fast sah ich sogar, wie wir als Kinder Fange gespielt hatten und lachend durch das Haus gelaufen waren. Ich war nicht bereit, das aufzugeben!


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Und was sagt ihr? Seit ihr für oder gegen den Umzug?   

Stiller Schmerz (BxB) *Überarbeitung pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt