Kapitel 72

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Tja, so war das also schnell geklärt. Doch mein Unterbewusstsein glaubte Selene nicht, dass das ganze so abgelaufen war. Kein Mensch war so naiv, dass er einfach ein halbes Jahr lang irgendwelche Pillen geschluckt hatte, ohne zu hinterfragen, was das war.

Ich verdrängte die Gedanken erst einmal aus meinem Gehirn, ich wollte mich jetzt auf die Abfahrt konzentrieren.

Ich holte meinen Koffer unter meinem Bett hervor, um meine Sachen hinein zu packen. Es ging schnell, weil ich nicht viel mitnehmen konnte und wollte. Ein paar Klamotten, aber Trainings Sachen brauchte ich ja nicht mitnehmen. Schnell bemerkte ich, dass mein Rucksack reichte und mein Koffer hier bleiben konnte.

Meine Augen fielen mir fast im stehen zu, als ich etwa eine halbe Stunde später fertig war mit packen. Schnell putzte ich Zähne und legte mich in mein Bett. Doch dort ploppten wieder die Gedanken auf, die ich verdrängt hatte. War Selene wirklich so naiv? Oder konnte sie so gut lügen?

In diesen Gedanken schlief ich ein und wachte bis zum nächsten Morgen nicht mehr auf. Mein Wecker klingelte früh, der Zug würde schon um neun Uhr fahren, am Nachmittag, so gegen halb sechs würde ich am Bahnhof ankommen. Meine Eltern konnten mich nicht abholen, weshalb ich mit dem Bus fahren musste.

Ich stand auf, duschte schnell und putzte Zähne. Der Rucksack stand schon vor dem Bett, sodass ich ihn einfach schnappte und nach unten zum essen lief. Schon von weitem sah ich Noahs Rücken. Er saß tief gebeugt über dem Frühstück und schaufelte Müsli in sich hinein.

Ich betrachtete ihn. Seine Haare waren lang geworden, bald konnte er sie zu einem Zopf binden. Seine breiten Schultern versperrten mir die Sicht auf deine Arme.

Doch ich wusste genau, wie sie sich bewegten, wenn er den Löffel zum Mund führte. Ich wusste genau, wie seine Art zu kauen und zu schlucken seine Kiefermuskeln anspannen ließen.
Ich hörte sein Lachen und seine warme Stimme in meinem Kopf und musste lächeln.

Schnell setzte ich mich ihm gegenüber.
"Morgen", nuschelte er mit vollem Mund. "Die auch einen guten Morgen! Freust du dich auch schon so doll auf zuhause?", fragte ich ihn.

"Naja, seit mein Bruder tot ist, ist bei uns zuhause alles anders. Meine Mutter hat ihren Job gekündigt und trinkt. Und mein Vater, tja, der ist kaum noch zuhause. Aber wenn er zuhause ist, redet er nicht mit mir. Ich fühle mich echt nicht wohl. Aber andererseits freue ich mich auf meine Freunde. Wenn ich die überhaupt noch Freunde nennen kann, ich habe sie seit zwei Jahren nicht richtig gesehen."

Das erinnerte mich am Diana. Und an das Telefonat vor langer Zeit. Ich hatte auch keine Ahnung, ob ich sie noch als Freundin bezeichnen konnte.

"Tja, das macht das Sportlerleben aus uns. Keine Zeit, keine Freunde, kein Spaß.", seufzte ich.

Einige Zeit später waren wir von Steffan zum Bahnhof gefahren worden. Selene hatte mich nicht angesehen, aber auch keinen blöden Spruch gebracht. Sie saß mit Basti auf der anderen Seite der Bahnhofshalle und wartete auf ihren Zug. Basti hatte sich verändert. Ich betrachtete ihn. Er war blass und hatte tiefe Augenringe unter den Augen. Ob das an Via lag? Das war doch schon so lange her!

Ich machte mir keine weiteren Gedanken. Sämtliche Sportlerinnen und Sportler waren inzwischen am Bahnhof angekommen und warteten auf ihre Züge. Ich hoffte dass Noah und ich noch ein bisschen Zeit zu zweit haben konnten.

Doch meine Hoffnungen wurden im Keim erstickt, denn als unser Zug kam, standen so viele andere Jugendliche mit auf, dass es fast unmöglich war, dass überhaupt alle in den Zug passten.

Bis zum ZielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt