Kapitel 106

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Wenn ich trainierte, war ich in einem "Alles ist mir egal"-Modus. Ich konzentrierte mich nur auf mich und meinen Körper und in letzter Zeit bekam ich erstaunlich viel Lob von Steffan.

Einmal, an einem kalten Dezember morgen, lief ich zum Kraftraum rüber. Es war Samstag, weshalb ich schon früher als sonst trainieren konnte. Ich war wie besessen.

Plötzlich sah ich von weitem Noah, der vom Leitungsgebäude weg lief. Doch er lief nicht in die Richtung vom Wohngebäude, sondern in den Wald.
Ich wunderte mich, denn eigentlich stand Noah nicht freiwillig so früh auf. Schon gar nicht bei dieser Kälte.
Also verschob ich meine Pläne und lief ihm hinterher. Er hatte eine Spur im Boden hinterlassen, der ich folgen konnte, doch ich wusste eh, wohin er lief.
Zur Klippe.

Ich konnte den Weg blind laufen und nach wenigen Minuten hatte ich ihn eingeholt. Noah saß schon am Rand des Abhangs und schaute in die Ferne. Ich konnte Tränen Spuren auf seinen Wangen erkennen.

"Noah?", fragte ich zaghaft. Er fuhr herum. Ich erwartete, dass er wütend wurde, doch er schaute mich nur ausdruckslos an. "Was ist?", fragte ich. Dann setzte ich mich neben ihn. " Hey, was ist den los?", ich erschrak leicht, als er plötzlich heftig anfing zu weinen und sich an meine Schulter lehnte.
Unter schluchzen erzälte er:"Sie schmeißen mich raus. Ich bin nicht gut genug für das Internat. Ich habe nicht so trainiert, wie sie es haben wollten und ich war nicht gut genug. Bei sämtlichen Wettkämpfen war ich nicht einmal zweiter. Und Steffan und Herr Esser meinten zu mir, dass ich mich entweder verbessern muss oder dass ich hier nicht mehr trainieren kann. Das war vor ein paar Wochen. Und ich habe mich angestrengt, aber ich bin wohl einfach nicht gut genug."

Während Noah sprach, bohrten sich seine Worte in mein Herz wie Nadeln. Er sollte hier weg? Er war meine einzige Stütze, gerade jetzt vor den Olympischen Spiele konnte ich nicht ohne ihn. Und außerdem hatte er alles, was ein guter Sportler braucht. Vielleicht war dieser Trainingsstil nicht sein Ding?
Genau das sagte ich ihm auch, doch er zuckte nur die Schultern.

Wir saßen noch lange dort und redeten. Wir beschlossen, dass ich noch einmal zu Steffan gehen sollte und mit ihm reden sollte. Ich musste ihn einfach überzeugen, dass Noah hier blieb. Anders ging es nicht!

Eine Woche später war das erste Kadertraining. Dafür fuhren Selene und ich nach Berlin. Die anderen blieben im Internat.
Ich hatte es mich nicht geschafft, mit Steffan zu reden, denn immer war irgendjemand dabei. Ich wollte mit ihm unter vier Augen reden.

Die Zugfahrt mit Selene verlief sehr eisig. Wir sprachen nicht und sie warf mir ab und zu arrogante oder angewiederte Blicke zu. Das hielt ich kaum aus, ohne etwas zu sagen und deshalb sah ich nur aus dem Fenster.

Eigentlich wollte ich Noah nicht allein im Internat lassen. Was, wenn er gerade jetzt hinaus geworfen wurde?
'Alia, jetzt komm schon. Es sind nur zwei Tage!', munterte ich mich in Gedanken auf. Ich versuchte, mich auf das Kadertraining zu freuen. Ich würde neue Menschen kennenlernen und nicht die Blicke der anderen ertragen müssen.

Die Fahrt dauerte eine Weile, doch irgendwann waren wir angekommen. Am Bahnhof erwartete uns eine Frau, die die deutschen Trainingsklamotten trug. Deshalb erkannten wir sie gleich und kamen auf sie zu. "Hey, seid ihr Alia und Selene?", fragte sie uns freundlich und wir nickten. "Ich bin Sylvia. Freut mich, euch kennenzulernen. Ich werde nicht eure Trainerin sein, aber ich werde euch helfen."
Wir nickten und liefen Sylvia hinterher, als sie aus dem Gebäude raus trat. Ein Wagen wartete auf uns, in dem schon einige andere Sportler saßen und sich unterhielten.

Bis zum ZielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt