Kapitel 76

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Ich hatte gewusst, dass ich mich entscheiden musste. Ich hatte es mir gedacht. Und ich hatte keine Ahnung, welche Antwort ich geben würde!

Meine Mutter drehte sich wieder um. Ich merkte, wie plötzlich alle Last auf mir lag. Ich wollte nun gerne bei Noah sein. Er würde mir helfen können.
Ich über legte, ob er mir seine Nummer gegeben hatte. Und dann fiel mir ein Zettel ein, den er mir in die Hand gedrückt hatte, mit den Worten:"Schau ihn erst zuhause an"

Ich fühlte in meiner Hosentasche nach und fand den Zettel. Ich las ihn mir durch:

Alia, du bist das beste, was mir passieren konnte. Du bist so ein wundervoller, starker Mensch!
Ich freue mich schon jetzt wieder auf dich, wenn wir uns im Internat wieder sehen!

Tja, wer wusste denn schon, ob wir uns überhaupt im Internat wieder sehen würden?

Und ich wünsche dir ein ganz tolles Wochenende bei deiner Familie, genieß es!
Alles Liebe, dein dich liebender Noah

Daneben stand seine Telefonnummer.
Plötzlich sah ich einen nassen Fleck auf dem Papier. Ich hatte nicht gemerkt, dass mir Tränen über die Wangen liefen.

An Schlaf war an diesem Abend nicht zu denken. Wir saßen zusammen auf den Sofa und weinten oder schwiegen einfach nur. Ich grübelte und bekam Kopfschmerzen. Wie sollte ich mich entscheiden? Sollte ich wirklich das aufgeben, wovon ich mein ganzes Leben lang geräumt hatte? Einerseits würde es mir das Herz brechen, doch andererseits würde es mir auch gut tun. Wenn ich so bedachte, was ich alles im letzten Jahr an Gefühlen erlebt hatte...

Ein großer Punkt war natürlich auch, dass ich Noah nicht sehen konnte. Meine Mutter würde es allerdings gar nicht verstehen, wenn ich wieder ins Internat ging. Sie verstand ja noch nicht einmal, warum mir die Entscheidung so schwer fiel. Für sie wäre es natürlich ganz leicht gewesen, sie hätte sich so oder so für die Familie entschieden. Aber wie sollte ich arbeiten gehen, wenn ich nicht einmal einen Schulabschluss hatte?

Es war mitten in der Nacht, doch das war mir egal, als ich Noahs Nummer wählte. Ich lief in den Garten. Ich war Barfuß und spürte das nasse Gras unter meinen Füßen. Es hatte aufgehört zu regnen und es tat mir gut, frische Luft zu atmen und zu spüren, dass es noch etwas anderes als meine Gedanken und Schmerzen gab.

"Noah hier?", meldete sich eine sehr verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung. "Hey, ich bins. Alia"
"Alia, ist etwas passiert? Warum bist du um diese Uhrzeit noch wach?"
"Noah, mein Vater hatte einen Autounfall. Er ist sofort gestorben, bevor irgend jemand ihm zu Hilfe eilen konnte."

Ich hörte, wie er scharf die Luft einsog. Ich erinnerte mich, dass er diese Schmerzen kannte. Sein Bruder war tot. Er hatte auch so eine Wunde in seinem Herzen.

Die Tränen liefen mir übers Gesicht und ich sah nach Oben. Die Sterne waren schön. Hier auf den Dorf konnte man sie genau so gut sehen wie im Internat.
Ich stellte mir vor, dass Noah ebenfalls diese Sterne sah. Genau die gleichen.

"Ich vermisse dich", schluchzte ich. Es war das erste Mal, dass ich richtig weinte seit der Nachricht. "Ich dich doch auch", sagte Noah mit seiner tollen tiefen, weichen Stimme. Ich küsste lächeln, was aber wieder durch ein Schluchzen unterbrochen wurde.
Ich setzte mich auf eine Bank.

Der Himmel war schön.

Noah und ich sagten eine Weile nichts. Ich hörte nur, wie er atmete, während ich schluchzte und in die Sterne sah.

Bis zum ZielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt