Kapitel 94

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Es tat gut, mit Noah darüber zu reden. Wir hatten uns aufs Bett gesetzt und ich hatte einfach angefangen zu erzählen. Ich erzählte ihm, wie es mir ging, wie durcheinander ich war und dann erzählte ich ihm von meinem Vater. Und Noah hörte zu. Er unterbrach mich nicht oder gab seine Kommentare ab. Er saß einfach nur da und hörte zu.

Und ich spürte, dass es leichter wurde, dass mein Vater weg war. Ich nahm wohl Abschied von ihm.
Einem Hand löste sich von keiner Brust. Diese Hand hatte meinen Brustkorb wie eine Schraubzwinge festgehalten und zu geschnürt.

Wir nahmen schließlich die Sachen und liefen raus. Ich hatte eine Plastiktüte gefunden, die ich um die Sachen wickelte. Nun gruben wir ein Loch und ich legte die Sachen hinein. Dann schaufelten wir das Loch wieder zu. Insgeheim betete ich ein kurzes Gebet für meinen Vater.

Ich spürte, wie mir ein paar Tränen die Wangen herunter liefen. Mein Herz wollte zerspringen. Es schnitt unaufhörlich von innen in meinen Körper hinein. Ich wollte, es würde zerspringen, damit ich nicht mehr innerliche Schmerzen hätte.
Und doch tat es gut zu spüren, dass ich noch fühlen konnte.

Ich lehnte meinen Kopf an Noahs Schulter und heiße Tränen liefen mir über das Gesicht. In den letzten zwei Jahren hatte ich so viel geweint wie mein ganzes Leben nicht. Und das lag alles nur an dem ganzen Druck des Sports. Dazu hatte ich meine Familie so lange nicht sehen können. Und nun war mein Vater tot.
Meine letzte Erinnerung an ihn war, als wir das Gespräch mit Herrn Esser und Steffan geführt hatten. Damals saßen wir nebeneinander,doch Zeit zum Reden hatten wir kaum gehabt.

Noah strich mir über die Haare. "Wollen wir rein gehen?", fragte er flüsternd. Ich nickte leicht.
Also liefen wir zurück nach oben in mein Zimmer.
Als wir uns auf das Bett fallen ließen, seufzte ich. "Noah, ich glaube ich schaffe es nicht, nach Olympia zu fahren."
"Natürlich schaffst du das. Du musst nur an dich glauben!"

Du musst an dich glauben. Wie sollte ich denn an noch glauben, wenn es kein anderer tat?

Noah spürte wohl, was ich dachte, denn er sagte:"Ich glaube an dich."
Doch auch das half nicht. Diese Leere in mir existierte immer noch und hinderte mich daran, vernünftig zu denken oder zu trainieren.

Später am Abend verließ Noah mein Zimmer, nachdem er sich ungefähr tausend mal vergewissert hatte, dass es mir gut ging.
Ich hatte ihn angelogen.
Mir ging es alles andere als gut, ich hatte keine Kraft mehr in meinen Beinen und Armen.
Die Gedanken raubten mir en Schlaf und  nächsten morgen sah ich nicht mich, sondern ein abgemagertes, leichenblasses Mädchen im Spiegel. Obwohl, das war doch nun ich oder?

Ich hatte keine Zeit, das Wasser in der Dusche zu genießen, obwohl ich kir auch nicht mehr sicher war, ob ich es überhaupt spüren konnte.
Auf dem Sportplatz fingen wir an zu trainieren. Es war härter als sonst, doch ich merkte es nicht. Mein Körper merkte es nicht.

Am Ende des Trainings wollte Steffan, dass wir uns zusammen auf den Rasen setzten. Es war einer der ersten richtig warmen Tage in diesem Jahr.
"Hört mal", begann er:" Nächstes Wochenende ist schon die Landesmeisterschaft. Und ihr wisst, nächstes Jahr ist Olympia. Ich will, dass ihr alle 2020 dort antretet. Alle!
Ihr müsst euch also diese Saison qualifizieren und durchsetzten.
Alle!
Außerdem habt ihr nicht mehr sonderlich viele Chancen. Ihr wisst, man kann sich nur bei einer bestimmten Art von Wettkampf qualifizieren.
Und weil ihr nicht mehr so viel Zeit habt, werden wir das Trainingsniveau noch weiter hochschrauben. Ihr seid die besten der besten und müsst das durchhalten. Alle!
Strengt euch an, Loser können wir hier nicht gebrauchen."

Bis zum ZielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt