#62 - Ein für alle Mal

61.4K 2.7K 145
                                    

Sein Blick war ernst, aber er war auch ein wenig ...ängstlich?

Wenn es so war, dann konnte ich es verstehen. Ich hätte ja in der Zwischenzeit meine Meinung ändern können und wollte ihn doch nicht mehr hier haben.

Aber das würde an dem Tag passieren, wenn Weihnachten und Neujahr gleichzeitig stattfanden. Ich und meine Meinung ändern? Sagen, dass ich ihm nicht glaubte, dass er mich liebte?

Hah, dass ich nicht lache.

Liebe machte einen handlungsunfähig. Es fühlte sich an, als wäre man eine Marionette. Als würde jemand anderes, jemand Unsichtbares, deine Fäden ziehen und dich das machen lassen, was er wollte.

Aber wisst ihr was? Das war mir egal. Es gefiel mir. Jeder, der die wahre, tiefe, echte Liebe schon einmal erlebt hat, weiß, wovon ich spreche.

Ich würde Harry niemals aufgeben.

Niemals.

„Ich glaube dir", sagte ich deswegen gleich einmal als Erstes und beobachtete, wie ein wenig Spannung von ihm abfiel. Seine Schultern entspannten sich ein wenig. Er versuchte seine Erleichterung zu überspielen und fuhr sich deswegen mit der Hand durch die Haare.

Ja, genau, ist schon okay, lenk mich nur ab von dem, was ich eigentlich sagen wollte.

Ich ließ meinen Blick durchs Zimmer streifen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Ich spürte schon wieder diesen Sog, der mich zu ihm hinziehen wollte. Diese körperliche Trennung war nicht auszuhalten, wenn wir uns hier im selben Raum befanden. Wie zwei Magnete, wie ich es schon so oft als Beispiel genommen hatte. Wir konnten nichts dagegen machen, das Universum hatte uns so erschaffen, dass wir ohne einander nicht leben konnten.

Liebe.

Liebe konnte das Schönste und gleichzeitig das Schlimmste auf Erden sein.

Ich kannte beide Extremen.

Genau jetzt befand ich mich in der Mitte. Exakt in der Mitte zwischen Schmerz und Glück.

„Harry, ich kann aber nicht damit leben, dass ... dass..."

Ich stoppte und klappte meinen Mund zu. Ich wusste nicht, wie ich es in Worte fassen sollte.

Ich knete meine Hände und suchte nach den richtigen Worten. Den Worten, die alles erklären konnten.

„Ich bin nicht eifersüchtig. Ich vertraue dir. Aber ich finde es trotzdem nicht gut, wenn du dich mit anderen Mädchen triffst. Noch dazu mit so wunderschönen wie Kendall."

„Die sieht nur schön aus, innen ist sie vollkommen hohl", grummelte Harry fast unhörbar und ich musste meine Mundwinkel unter Kontrolle halten, dass ich nicht anfing, breit zu grinsen.

Diesen Satz hatte ich in letzter Zeit schon öfter gehört.

„Das ist egal, mir geht es nicht nur um sie speziell, sondern einfach insgesamt. Das heißt jetzt nicht, dass ich dir verbiete, dich mit irgendwelchen Leuten zu treffen, um Himmels Willen! Aber ...ich würde halt wenigstens gerne wissen, in welchem Teil der Erde du dich befindet. Plötzlich bist du in LA und ich denke mir nur: ‚Hä, was? Okay?!' und habe halt keine Ahnung davon. Ich kann mir ein wenig sehr dumm vor, um ehrlich zu sein. Du hast selber immer gesagt, dass Reden in einer Beziehung und vor allem in einer Fernbeziehung das Wichtigste ist. Ich verlange nicht, dass du mich jeden Tag anrufst, sagst, was du gemacht hast und so weiter. Ich bin kein Kontrollfreak, aber es gibt doch gewisse Dinge, die ich als selbstverständlich in einer Beziehung sehe – und dazu gehört einfach auch, dass man weiß, wo sich der andere gerade befindet. Oder ungefähr befindet. Wenigstens welcher Kontinent. Und dass man sich meldet."

Harry öffnete den Mund, aber ich sah ihn warnend an. Ich wusste, dass er sagen wollte, dass er nur versucht hat, ohne mich zurecht zu kommen, aber das wollte ich jetzt nicht hören.

„Wenigstens mal kurz schreiben oder so, weiß was ich, aber Herrgott nochmal, diese Stille bringt mich um!"

Verzweifelt warf ich die Hände in die Luft und musste mich ein wenig bremsen, weil ich sonst aufgesprungen und durchs Zimmer getigert wäre. Meine Stimme senkte ich auch wieder, ich wollte den Rest meiner Familie nicht aufwecken.

„Es tut mir Leid", flüsterte Harry und starrte hinunter auf die Bettdecke. Dann hob er den Blick und Reue blitzte sachte in seinen Augen. „Es tut mir so Leid, ich habe mich so dumm verhalten."

„Das Dümmste kommt ja erst noch", ging ich dazwischen. Meine Stimme klang ganz sanft, weder vorwurfsvoll noch anklagend. Damit war ich durch. Der Groll und die Wut hatten sich jetzt gänzlich aufgelöst. Was jetzt ziemlich präsent war und schmerzhaft in meiner Brust pochte, waren die Verletztheit und die Enttäuschung.

Ich fühlte mich so elend.

„Weißt du, Harry..." Ich schluckte und atmete ein paar Mal tief durch. Ich wollte die Fassung nicht verlieren. Ich wollte sie nicht verlieren, ich musste die Nerven bewahren. „Ich verstehe nicht, wieso du nicht einfach mit mir darüber gesprochen hast."

Für einen Augenblick passierte gar nichts in meinem Zimmer. Wir sahen uns nur an. Ich wartete auf eine Reaktion, aber es kam keine.

Also sprach ich weiter und ignorierte den Schmerz, der durch meine Adern wallte wie Flüssigkeit.

„Wieso hast du nicht mit mir darüber gesprochen? Wieso hast du nicht gesagt, dass du das Gefühl hast, es könnte uns kaputt machen? Mich kaputt machen? Bin ich so jemand, mit dem man über solche Sachen nicht reden kann? Habe ich irgendetwas falsch gemacht, dass du so-"

„Sch, sch, sch, Sam."

Ohne dass ich es gemerkt hatte, befand sich Harry jetzt exakt vor mir und hatte seine Hände an meine Wangen gelegt. Ich starre in seine grünen Augen, die sich nur eine Handbreit von meinen entfernt befanden. Ich atmete hektisch und laut und die Tränen standen mir in den Augen. Ich war wie erstarrt. Die Enttäuschung machte mich bewegungsunfähig.

„Lass mich das ein für alle Mal klarstellen, Baby", hauchte er und sah mir tief in die Augen.

Mein Pulsschlag beruhigte sich kein Stück.

„Es ist nichts davon deine Schuld. Okay? Hast du mich verstanden? Du kannst nichts dafür. Das war allein mein zu schnelles Handeln. Natürlich hätte ich mit dir reden sollen, jeder normale Mensch hätte das gemacht! Und ich kann dir auch nicht sagen, wieso ich das nicht gemacht habe. Ich weiß es einfach nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass es mir Leid tut. Gott, es tut mir so sehr Leid und ich habe überhaupt keine zweite Chance verdient. Mein Verhalten war einfach nur... es war einfach nur beschissen. Ich verstehe mich jetzt im Nachhinein selbst nicht mehr, wie ich dir das antun konnte." Sein Blick war ganz glasig geworden und er starrte an mir vorbei ins Leere. „Wenn ich mir die Situation andersrum vorstelle, ...ich will es mir gar nicht ausmalen, wie es mir gehen würde. Ich war so ein Arschloch. Es tut mir so Leid, es tut mir so sehr Leid, Sam, bitte verzeih mir."

Ich lehnte meine Stirn gegen seine und schloss die Augen. Für einen Moment bewegte ich mich nicht, dann rutschte ich nach vorne auf seinen Schoß, zog mich mit den Händen an seinem Nacken ganz dicht an ihn und umarmte ihn.

Harry schlang die Arme um meinen Rücken und drückte mich so fest an sich, als wollte er mich nie wieder gehen lassen. Meine Tränen liefen wieder.

„Es tut mir so Leid... es tut mir so sehr Leid, dass ich dir so weh getan habe... es tut mir so Leid..."

Harry murmelte in einem Fort seine Entschuldigungen und jedes Mal, wenn er etwas sagte, wurde ich ein wenig ruhiger. Meine Tränen versiegten und ich atmete wieder gleichmäßig und flach.

Ich löste meine Arme von seinem Nacken und rückte ein paar Zentimeter von ihm ab, damit ich ihm in die Augen sehen konnte.

„Ich liebe dich", sagte ich schlicht und ganz leise.

Es war das einzige, was es hier und jetzt zu sagen gab.

Etwas anderes zählte nicht.

Das war alles, was zählte.

HeartthrobWo Geschichten leben. Entdecke jetzt