#85 - Kehrtwende

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Das durfte ich aber nicht. Ich musste die Fassade weiterhin aufrecht erhalten, hinter die niemand schauen durfte, bis ich wusste, was ich machen sollte. Ich musste weiterhin ich selber sein. Stark. Ungebrochen. Sam.

„Ach Mist, ich habe die Tafel Marzipan-Schokolade unten vergessen, die Jana mir vor ein paar Tagen mitgebracht hat!", rief ich und schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn.

Wie gesagt, ich musste so normal bleiben, wie es nur ging.

Und Schokolade war ein Hauptbestandteil meines Lebens.

„Warte, ich hole sie."

Bevor ich etwas erwidern konnte, war Caro schon bei der Tür. Sie war so ein Schatz.

„Die liegt in der Küche neben dem Kühlschrank!", rief ich ihr hinterher, als sie mein Zimmer schon verlassen hatte und die Treppe nach unten lief.

Ich ließ mich auf mein Bett sinken und schloss die Augen. Sobald ich alleine in einem Raum war, fingen meine Gedanken an, sich zu drehen. Sie überschlugen sich, wirbelten herum und malten die schlimmsten Szenarien aus, die Freitag passieren konnten. Ich presste die Handballen auf meine Augen. Mir war es egal, dass ich damit meine Schminke total verschmieren würde, das war ja lachhaft.

Ich hatte ganz anderes, was wirklich schlimm war.

Ich richtete mich wieder auf und stieß die Luft aus. Ohne dass ich es gemerkt hatte, hatte ich die Luft angehalten. Ich atmete tief ein und wieder erschien Harrys Gesicht vor meinem inneren Auge. Sein Gesichtsausdruck, wie er geschaut hatte, als Nico diese paar Worte gesagt hatte. Wie er mit diesen Worten einfach mein Leben zerstört hatte.

Wo blieb eigentlich Caro? So lange dauerte es eigentlich nicht, bis man die Treppen hinunter und wieder hinaufgelaufen war!

Ich stand auf und drückte die Schultern durch. Nicht einknicken, Sam.

Wo blieb sie?! Hm, nicht dass irgendwas passiert war, ein Einbrecher, Überfall, Kidnapping,...!

Okay, ich drehte langsam WIRKLICH am Rad.

Seufzend lief ich die Treppe nach unten. Ich hörte nicht einmal ein Geräusch aus der Küche, was mir langsam wirklich bisschen Angst einjagte.

Ich bog um die Ecke – und blieb wie angewurzelt stehen. Mein Mund klappte auf und meine Augen kullerten beinahe aus meinem Kopf.

Dort standen meine beste Freundin und mein Bruder.

Und küssten sich, als gäbe es kein Morgen mehr.

Ja holla die Waldfee, da war es wohl mit Reden vorbei und die Sache war klar oder wie durfte ich das sehen...?

Meine Mundwinkel bogen sich nach oben und ich glaube, ich hätte Stunden hier stehen können und ihnen zusehen können (auch wenn der Anblick eindeutig unter die Kategorie ‚VERSTÖREND' fiel. Zumindest vorerst.)

Weil sich das aber nicht gehörte, hatte ich vor, mich brav aus dem Staub zu machen.

Aber natürlich nicht, mich vorher bemerkbar zu machen.

„Caro, Schatzi, gib mir wenigstens die Schokolade, damit die nicht komplett in deiner Hand zerschmilzt."

Schließlich war sie doch runtergelaufen, um sie (heil und ungeschmolzen) zu holen, oder?

Die Reaktion der beiden war göttlich. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so krass zusammengezuckt war. Und auch noch absolut synchron! Ich musste mich so zusammenreißen, dass ich nicht in ein irres, lautes Gelächter ausbrach.

Ich beobachtete die beiden und ein fettes Grinsen war in meinem Gesicht.

Caro wollte Leo sofort reflexartig von sich stoßen, so wie es wahrscheinlich jeder gemacht hätte an ihrer Stelle, aber er ließ es nicht zu. Er löste nicht einmal seine Lippen von ihren. Er umfasste ihr Gesicht vorsichtig, aber bestimmt mit seinen Händen und hielt sie fest.

HeartthrobWo Geschichten leben. Entdecke jetzt