Kapitel 108

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Ich schloss die Haustür auf und lief in den Flur, wo ich sofort meine Schuhe abstreifte. Paps war etwas allergisch darauf, wenn wir mit unseren Schuhen mit denen wir im  Reitstall waren durch das Haus liefen. Da war er dann mit unseren Schwestern auf einer Linie und meinte, dass die nach Mist miefen würden. Phil zog neben mir auch seine Schuhe aus und stopfte sie zu den anderen in das Regal. "Bei dir ist das Training heute super gelaufen. Nelly war richtig gut." Ich nickte. Ja, heute hatte wirklich alles geklappt. "Und bei dir?" Mein Bruder guckte grimmig "Salomon hat wieder bei dem Oxer gepatzt." Wir liefen in das Wohnzimmer, wo Mom auf dem Sofa saß und Paps über die Schulter schaute, der sein Laptop vor sich stehen hatte "Schnutzelchen, wir brauchen nur einen einfachen Kinderwagen." Sie drehte sich zu uns herum "Ach, meine  beiden Großen. Könnt ihr nicht eurem Vater erklären, dass ein Kinderwagen keine verstärkten Federn und innenbelüfteten Bremsen braucht. Die Dinger sehen aus wie intergalaktische Raumschiffe auf dem Ausflug zur Erde." Sie schüttellte grinsend den Kopf "Ja, aber Prinzessin. Unsere kleine Prinzessin soll schon das Beste vom Besten haben und nicht so veralteten Trödel. Außerdem muss das ja alles auch sicher sein." Paps tippste mit seinem Finger auf das Display "Der hier zum Beispiel.." Mom grinste nur kopfschüttelnd und wandte sich uns zu "Hier sind für euch Briefe gekommen." Sie beugte sich vor zum Tisch und wedelte mit zwei Umschlägen in der Hand. Von wem waren die denn? Wer sollte uns beiden schon schreiben. Ich grübelte kurz. Also vom Reitverband konnten sie nicht sein, da waren ja schon die nächsten Turniere geklärt. Phil und ich liefen zu Mom und ließen uns die Briefe geben. Ich schaute auf den Absender, das Kultusministerium von Nordrhein Westfalen. Was wollten die denn von uns? Das konnte ja wohl nicht noch wegen dieses komischen Wettbewerbs sein. Nee, dann hätten Tessa und Maja ja auch einen Brief bekommen. Neugierig riss ich fast synchron mit Phil den Brief auf und holte ein Schreiben heraus. Schnell fing ich an zu lesen. "Na das ist ja mal geil.", kam es von meinem Zwilling. "Ja, findest du auch, ne. Diese Luftdruckfederung ist der neueste Schrei  und soll dafür sorgen, dass die Babys wie auf Wolken unterwegs sind.", mischte sich Paps ein und stierte weiter auf sein Display.  "Oxford oder Cambridge.", lachte Phil und schaute mich an, ehe er mir seine Hand zum Einschlagen hinhielt. "Nee, der rosafarbene heißt Paris. Oxford oder Cambridge sind braun und grau. So etwas nehmen wir doch nicht für die Prinzessin." Paps schüttelte empört den Kopf. "Man, doch nicht Kinderwagen." Phil schüttelte nicht weniger empört den Kopf "Stipendium Uni." Sofort hatten wir die totale Aufmerksamkeit unserer beiden Eltern. "Wie jetzt Stipendium ?" Mom schaute uns fragend an. Ich reichte ihr meinen Brief und diesmal lunste Paps über ihre Schulter. "Das ist ja echt der Hammer, dass unsere beiden Genies so etwas angeboten bekommen.", grinste er nach kurzer Zeit. Ja, das Ministerium hatte uns für ein Stipendium vorgeschlagen, da wir ja schon mit 16 das Abi machten. Obwohl ich da zwar das Wort Eliteuniversität gelesen hatte, fragte ich mich, wie Phil auf Oxford und Cambridge kam. "Habt ihr euch denn überhaupt schon überlegt, was ihr studieren wollt?" Mom schaute zwischen uns beiden hin und her und klopfte auf das Sofa neben sich. Das war dann wohl ganz klar eine Aufforderung zu einem längeren Gespräch. "Also ich will Tiermedizin studieren.", kam es sofort von meinem Bruder. Mom nickte und schaute auf die Blätter, die in ihrer Hand. "Dann könntest du nach Berlin oder München." Sie tippte auf eine Zeile in der anhängigen Liste. Phil zog eine Flappe "Nicht England." Sie schüttelte den Kopf. "Das Angebot zählt nur für deutsche Unis." Bei dem Gedanken so weit wegzugehen, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Da könnte ich ja kaum noch Leo sehen. Das ging ja mal gar nicht. Eigentlich wollte ich ja Medizin studieren. Das war schon immer mein Traum gewesen, so lange ich denken konnte. Aber letztens hatte ich schon einmal recherchiert und festgestellt, dass es in Dortmund nicht möglich war und selbst in Bochum gab es nicht einmal mehr Sportmedizin. In der ganzen blöden Umgebung war da nichts möglich. Also musste ich halt irgendetwas machen, was hier ging. War ja egal was, Hauptsache ich konnte in Leos Nähe bleiben. "Und du, Max, bleibst doch bei Medizin?" Mom schaute auf die Liste und tippte wieder auf eine Zeile "Das wäre dann Berlin oder Göttingen. Das wäre ja nicht schlecht, wenn ihr beide in Berlin studieren würdet. Da könntet ihr bei Oma und Opa wohnen und Alex und Felix hätten auch ein Auge auf euch." Phil fing an zu brummeln "Können wir nicht eine eigene Bude haben? Wir beide sind doch schon alt genug." Mom schüttelte entschieden den Kopf "Nee, vor dem Gesetz noch nicht. Da fehlen euch noch zwei Jahre." Ich griff nach dem Zettel in ihrer Hand und durchforstete die Liste. Mist, gab es denn nicht eine Eliteuni hier in unserer Nähe? Lebten wir hier im Bildungsniemandsland, oder was? Dann musste ich mir etwas anderes einfallen lassen "Ich will aber lieber Ingenieurswesen studieren. Das gibt es auch hier in Dortmund. Da brauche ich dann gar kein Stipendium für." Paps zuckte mit den Schultern "Was soll das sein?" Na schöner Mist. Damit hatte ich mich noch gar nicht auseinandergesetzt, aber ich hatte gelesen, dass es an der TU Dortmund angeboten wurde und die Fakultät wohl einen gar nicht so schlechten Ruf hatte. "Naja, das mit den Stipendien braucht ihr sowieso nicht. Eure Ausbildung zahlen schon wir. Die Stipendien sollen mal lieber die in Anspruch nehmen, die es auch wirklich brauchen ", schaltete Mom sich ein und zwinkerte mir kurz zu. "Max, kannst du mir die Sachen ins Babyzimmer hochtragen helfen?" Sie hielt mir ein paar zusammengelegte Strampler hin. "Das kann ich doch machen, Prinzessin." Paps war schon am Aufspringen als Mom ihn wieder auf das Sofa zurück drückte "Nix da, Schnutzelchen. Du suchst weiter nach einem Kinderwagen." Das war wohl das magische Wort, denn er senkte sofort wieder seinen Kopf über die Flimmerkiste und war gleich wieder in irgendwelchen technischen Details vertieft. Ich dagegen lief hinter meiner Mom die Treppe hoch. Vor der Tür zum Babyzimmer blieb sie stehen und drehte sich zu mir um "Du willst doch gar nicht Ingenieurswesen studieren. Sei ehrlich, eigentlich willst du Medizin studieren, aber wegen Leo hier nicht weg." Man, warum hatte sie das denn gleich gecheckt?  "Pass' mal auf Max. Auch wenn ihr für mich ein absolutes Traumpaar seid, solltest du deshalb nicht deine Zukunftsträume aufgeben. Ich bin mir sicher, dass ihr auch eine Entfernung überbrücken könnt und es ist doch nicht für immer. Überlege es dir gut. Irgendwann wirst du es sonst garantiert bereuen, deinen Traum aufgegeben zu haben." Mom nahm mir die Strampler aus der Hand und lief in das Zimmer. Vielleicht hatte sie ja recht und ich würde es irgendwann bereuen. Aber wenn ich ohne Leo wäre oder sie verlieren würde, weil ich an einen anderen Ort musste, dann würde ich es noch viel mehr bereuen. Nein, ich würde einfach irgendetwas hier in Dortmund studieren und damit auch glücklich werden. Wenn Leo in meiner Nähe war, war ich sowieso glücklich. Scheiß doch auf Medizin.

Kein Schuss, trotzdem ein Treffer  ✔Teil 5Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt