Kapitel 76: Gefühle

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"-na!" kaum hörbar drang eine Stimme zu mir und holte mich in die Realität zurück. "Jenna!" Vorsichtig öffnete ich die Augen. Meine Sicht war verschwommen, wobei ich mir durch blinzeln Abhilfe schaffen wollte. Was auch gelang, doch sofort spürte ich den kalten Boden unter mir und den kräftigen, fast schon heißen griff an meinem Arm. Ich war ein Mensch und noch mitten im Spiel. Irgendetwas hatte mich erwischt und ausgeknockt. Als ich mich schlagartig aufrichtete, schoss ein blitzartiges Gefühl durch meinen Kopf, was mich beinahe wieder zurück sinken ließ. Dieser stechende Schmerz oberhalb meiner Schläfe hatte ich bis gerade nicht einmal gespürt, doch was ich spürte war die dickflüssige Feuchte die mein Gesicht tränkte. Ich tastete nach der Wunde und keine Sekunde später spürte ich erneut den schmerz und das Blut an meinen Fingern. "Jenna geht es dir gut?! Komm endlich richtig zu dir!" Ich nahm die kräftige Stimme war, jedoch ignorierte ich die Worte vollkommen. Ich hatte meine normale Sehkraft wieder und blickte auf meine dunkelroten Finger. Am Himmel schob der Wind wohl gerade eine Wolke vom Mond weg, denn kalte blaue Licht brach durch die Baumkronen und erreichte meine Finger. Es war zwar ein angenehme Nacht gewesen, doch nach wer weiß wie vielen Stunden die ich hier gelegen hatte, wurde es immer kühler. Meine Finger lagen mit ihrem blassen weiß-blau in Kontrast mit dem tiefen Rot, welches in dem Licht glänzte. "Jenna!" Die Hand packte stärker zu und versuchte mich auf meine Beine zu ziehen. "Hörst du mich?!" Vielleicht war auch mein Mangel an Blut schuld, dass mein Kopf sich so leer anfühlte. Hatte ich denn viel verloren? Meine Augen wanderten langsam von meinen Fingern zu den Wurzeln des Baumes, an der sich eine rote Lache gebildet hatte. Nicht viel, doch gerade so viel, dass man ärztlich behandelt werden sollte. "Jenna!" Eine zweite Hand packte mich und zog mich auf die Beine, sodass ich ihn direkt anschaute.

Diese sonst so eisig grünen Augen, waren gefüllt mit Zorn und brannten sich in meine Seele. Seine Brust hob und sank sich in einem schnellen Rhythmus. "Hey! Jenna! Was ist passiert?" Sonst war er doch nicht so? Er interessierte sich nicht für mich. Das was ihn interessierte war mein Tod. Er hatte mich also doch gefunden. Ich fing mich soweit, dass ich mich konzentrierten konnte. "I-Ich weiß es nicht." Meine Stimme zitterte vor Erschöpfung. "Irgendetwas hat mich erwischt... Ich ha-hatte es schon fast... das Kaninchen." Ungläubig beäugte er mich. "Jenna, was hat dich so verletzt?" Er bemerkte nach seiner Frage sofort, dass es keinen Sinn machte auf eine Antwort zu warten und seufzte gequält. "Ich bringe dich zurück." Mit einer schnellen Bewegung hob er mich hoch und trug mich, an seine Brust gepresst durch den Wald. Vermutlich lag es einfach daran, dass ich eh nichts richtig erkennen konnte, doch er schien anders. Er war wütend und genervt, doch nicht wegen mir oder besser gesagt spiegelte sich sein Zorn auf eine andere Person wieder. Aber war er nicht immer der gewesen, der Rache für seine Schwester wollte? Er hasste mich. Er wollte meinen Tod und den wollte er mir eigenhändig selbst bescheren. "Es wird eine Weile dauern bis wir wieder in deinem Garten sind. Du bist ganz schön weit gelaufen." "Nein!", rief ich und begann zu strampeln, wie ein kleines Kind. "Hey, was ist-", stieß er aus und versuchte mich nur irgendwie möglich festzuhalten. Mir ging es schon deutlich besser, als noch vorhin, weshalb ich umso stärker zappelte. Ich schickte einen stillen Gruß an Kathawee und dankte für ihre außerordentliche Heilkraft, die mit der Zeit immer stärker wurde. Ich spürte ihr warmes lächeln in meinem Inneren. Ben blieb nichts anderes übrig als mich abzusetzen. "Hey!", rief er erneut und griff nach mir. Er fixierte meine Schultern so, dass ich ihm direkt in die Augen sah und keine Chance hatte von ihm weg zu kommen. "Lass mich los!", zischte ich und versuchte mich zu lösen, gab den Versuch aber recht schnell auf. Gegen seine Kraft kam ich einfach nicht an. "Was ist dein Problem?", knurrte er. "Du willst mich doch sowieso töten!", zischte ich und trat gegen sein Schienbein, was keinerlei Reaktion bei ihm auslöste. Von Grund auf Scheiße. "Dann tue es wenigstens jetzt!" Als wäre er vollends erschöpft entspannten seine Schultern und er lockerte seinen Griff. Mit der einen Hand rieb er sich die Augen und seufzte lange und genervt. Er löste seine Hand und blickte kurz in den Himmel, dann sank sich sein Kopf und die markanten Wangenknochen zierten sein Gesicht im Mondschein. "Jenna, ich hasse dich nicht.", begann er. Seine zusammengezogen Augenbrauen und das blitzen in seinen Augen konnte ich nicht deuten, aber es fesselte mich. Erneut stieß er die Luft in einer Art seufzen aus. "Ich-", seine Lippen bewegten sich, doch mehr als das eine Wort verstand ich nicht, denn die Zeit wurde langsamer während mein Herzschlag schneller wurde. Meine Augen gefangen in seinen, wurde er nur wenige Zentimeter vor mir von einer dunklen Pranke erwischt, die ihn Meter weit von mir weg schleuderte. Sie traf ihn an seinem Kopf, während die Krallen sich in sein Fleisch schnitten und mir Blut ins Gesicht spritzte. Regungslos blieb ich stehen. Das Geräusch von brechenden Ästen und Knochen hallte immer und immer wieder in meinem Kopf wieder. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf zur Seite und wagte es kaum auf den leblosen Körper zu schauen der blutend gegen einen Baum geschellt war und eine Delle in dem massiven Baumstamm zurückließ.
Ben bewegte sich nicht. Er hat seinen Satz nicht einmal beenden können. Jegliche Verträumtheit war wie weg gepustet, doch der Schmerz durch die Wunde und der Blutverlust drängte sich umso bewusster als Schwäche nach vorne. Wut überkam mich und so schnellte ich herum und blickte auf den Angreifer, den ich erwartet hatte, Nahuc, das Biest.

Seine roten Augen brachen die Dunkelheit und trieften nur so vor Machtgier und Hass. Dieser Funken Liebe, der sonst immer vorhanden war, war verschwunden, von Hass überdeckt und verschlungen von der Einsamkeit die ihn all diese Jahre begleitet hatte.
Seine Augen brannten sich in mich herein und sahen das was mich schaudern ließ.
Meinen Tod.

"Ich sagte es dir bereits. Du kannst deinem Schicksal nicht entkommen."

Ich hörte ihre Stimme das erste Mal so klar wie meine eigene, ohne dass ich dabei auf dieser Lichtung war. Ich war bei Bewusstsein und sie war bei mir. Ihre Worte schallten in meinem Kopf wieder und wieder.
Ich kann meinem Schicksal nicht entkommen.
Ein summen breitete sich über mein Gehör aus, sodass ich nichts mehr in meinem Umgebung wahr nahm. Es war so weit. Mein Schicksal würde hier und jetzt in Erfüllung gehen. Ich werde sterben. Aber ich will es nicht. Wer will es denn so wirklich? Ich kann nicht sterben, nein ich darf es nicht! Nicht so, nicht hier! Nein, ich werde nicht sterben!!
Es war als brach mein Inneres in zwei und ließ etwas frei, dass ich noch nie in solch einem Ausmaß verspürt hatte. Eine Welle aus Gefühlen riss mich beinahe von meinen Füßen. Sie schwallten gegen die Wände meines Inneren und wollten raus. Sie wollen frei sein. Sie wollen gehört werden. Jahrhunderte alte Gefühle strömten in mich. Gefühle und Bilder früherer Leben. Freude, Liebe, Angst, Freiheit und Hass. Ein Hass der sich ansammelte, Leben für Leben und zu einer schwarzen dicken Masse verschmolz und sich auf eine einzige Person richtete. Die Masse schwallte um mich herum und verschlang mich in ihr. Das summen verstummte und ließ eine einsame Stille zurück. Ließ mich zurück in purem nichts. Ich öffnete meinen Mund und auch wenn ich nichts hörte, schrie ich so laut wie ich nur konnte.

Der Wolf in MirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt