Kapitel 75: Der erste Wolf

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Ich blickte in ein Gesicht welches meinem glich. Der einzige sichtbare Unterschied waren ihre Augen, die noch immer in der Farbe des Mondes leuchteten und ihre Haare, die so weiß, wie ihr Fell waren.
Regungslos stand ich vor ihr. Es dauerte bis ich mich mehr oder weniger zusammenriss und anfing zu sprechen, wenn auch nicht richtig. "Re-Reinkana... ich... du... wie ist das...?" "Ich verstehe deine Verwirrung.", sprach sie sanft lächelnd. Es war ein merkwürdiges Gefühl, mich selbst sprechen zu sehen, ohne wirklich zu sprechen. "Du stammst aus einer sehr alten Blutlinie. Du bist der direkte Nachkomme des ersten gebürtigen Wolfes. Du trägst mein Blut in dir." "Dein Blut? Also warst du der erste Wolf?"
Sie lachte in einem bitter süßen Ton auf, als würde sie sich an eine Zeit erinnern, in der ihr Leben voller Glück war.
"Nein, ich war seine Mutter." Ihr Lachen wurde leiser und ihre Augen füllten sich mit Trauer. "Doch er starb, als er noch jung war. Er hatte eine junge Frau kennengelernt und war bereit sie als Frau zu nehmen. Dann starb er, durch die Klaue seines Vaters." Sie erzählte es mit solchem Schmerz in der Stimme, dass ich nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. "Warum hat er es getan?", fragte ich vorsichtig. Ich erwartete nicht einmal, dass sie mir klar antwortete, doch sie tat es. Sie würde mir keine Frage unbeantwortet lassen. "Das weiß ich nicht. Ich habe immer versucht es herauszufinden, aber er hat mir keinen klaren Einblick gegeben. Er hegte weder Groll noch Liebe für ihn." Es war pure Mordlust. Sie hatte es nicht ausgesprochen, dennoch ich hörte diese Worte in meinem Kopf widerhallen. "Monster." Ich hatte nicht die Absicht, dass sie mich verstand, aber sie tat es.

"Er war nicht immer ein Monster. Ich habe ihn erst zu einem gemacht." Verwirrt runzelte ich die Stirn. Wie meinte sie das? Sie hatte ihn zu dem gemacht der er war? Ein Mörder der seinen eigenen Sohn tötete? "Wie meinst du das?" "Er wurde als Mensch geboren. Und als er heranwuchs habe ich gefallen an ihm gefunden. Er war stark und angesehen und wurde jung der Häuptling seines Stammes. Ihr Stamm war es, der mich geboren hat und so habe ich ihnen etwas zurück gegeben. Eine Kraft, ein Segen und ein Fluch, der sie einmal im Monat heimsuchen würde." "Der Vollmond." Kathawee nickte. Es war nicht überraschend, er beeinflusste schon immer alle, alle außer mich. Früher hatte ich gedacht, dass es daran lag, dass ich ein Omega wäre, doch mittlerweile zweifelte ich an diesem Gedanken. "Du gabst ihnen die Fähigkeit sich in einen Wolf zu verwandeln war es nicht so?" Sie nickte erneut. "Für ihn kam ich auf die Erde."
Sie wurde durch ihren Stamm geboren.
Sie hat ihnen ihr zweites Gesicht geschenkt.
Sie kam auf die Erde.
Was ist Sie?
Unbewusst hatte ich die Frage laut ausgesprochen, denn aus Kathawees Lipoen zeichnete sich ein Lächeln. "Das habe ich dir bereits bei unserer ersten Begegnung beantwortet." All diese Antworten und diese Wahrheit brachte meine Beine zum zittern. Jetzt machte alles erst einen Sinn.
"Du bist der Mond. Du hast Nina gerettet.", sagte ich ungläubig und ging einen Schritt auf sie zu, so als wollte ich sie näher betrachten, um herauszufinden wer oder was sie war. "Nein Jenna, das warst ganz alleine du selbst." Sie hob ihre Hand und streifte eine Haarsträhne hinter mein Ohr. Ihre Fingerspitzen waren kalt. So kalt, dass meine Haut an den Stellen, die sie berührte kribbelten und doch drückte mein Inneres gegen diese Stellen als wollte es herausbrechen und sich an sie schmiegen. "Vergiss nicht, dass ich ein Teil von dir bin." "Aber wie?" "Du hast das selbe gemacht, wie ich damals. Du hast aus Liebe gehandelt und ihr ein Teil des Mondes geschenkt. Sie ist die erste Generation, der Ursprung aller Wölfe.", sagte Kathawee mit einem strahlen in ihren Augen, als würde sie mehr, als nur das sehen. "Also ist sie jetzt ein Wolf? Eher gesagt Werwolf, so wie in den Filmen und Legenden? Einmal im Monat wird sie sich verwandeln?" Wieder antwortete sie nur mit einem Nicken. Oh man. Ich hatte sie zu einem Monster gemacht. Ob das wirklich so gut war? Naja, immerhin war es besser, als sie tot zu sehen... Hoffentlich verzeiht sie mir auch das.

"Was siehst du in mir?" "Eine Aussicht.", sprach sie so überzeugt aus, dass ich nicht einmal wirklich nachfragen wollte, oder doch konnte, was sie damit meinte. Außerdem sprach sie nach einer kleinen Pause, die wohl für uns beide gedacht war weiter: "Du bist ich und ich bin du. Nur aus einer anderen Zeit und einem anderen Leben. Dein Leben wird sein Ende finden, während dein Wissen in mich über geht und auf die nächste Generation übertragen wird. Jedem unserer Leben erliegt dem Kreis des Schicksals, der sich immer wiederholen wird. Doch auch wenn du eine Aussicht bist, wird deines nicht anders aussehen." Ihre Worte lagen so voller bedauern, dass ihre Augen mich bemitleideten. "Wie endete jedes einzelne Leben?" Ich wusste schon während ich diese Frage stellte, dass ich es bereuen würde. Ich wollte es wissen und doch krampfte sich mein Herz zusammen. Es war so wie sie gesagt hatte, jedes meiner, nein, ihrer Leben endete so. Also auch meines. "Sie fanden den Tod, so wie auch ich einst." "Und wie bist du gestorben?", hakte ich vorsichtig nach. "Ich dachte du wärst der Mond selbst?" "Ich bin das Leben hinter dem Mond. Ein Geschöpf dem ihr eine Gestalt gegeben habt. Eine Göttin, so wie ihr es nennt. Doch in Wahrheit bin ich eine Seele, wie jede Andere, die durch die Gebete deiner Vorfahren stark wurde. Ich hatte die Kraft einen eigenen Körper zu schaffen. Einen Körper der weder Mensch noch Tier war. Ich war in drei Welten Zuhause. Beim Mond, bei den Menschen und den Tieren. Ich wollte lernen und so beobachtete ich sie aus der Ferne und so wuchsen sie mir ins Herz, ich liebte jeden einzelnen von ihnen und offenbarte mich. Ihre Liebe zu mir wuchs nur noch mehr und so gab ich ihnen ein Geschenk. So wie sie mir einen Körper gegeben hatten, gab ich ihnen das Gesicht eines starken Tieres, den Wolf. Mit der Zeit wuchs meine Liebe zu einem Mann, Nahuc, empor und übertraf die der anderen. Unsere Liebe beruhte auf Gegenseitigkeit und so blieb ich an seiner Seite und schenkte ihm die Kontrolle über seine Verwandlungen. Einige Jahre später gebar ich unseren Sohn. Er wurde ein starker Krieger, zu dem der ganze Stamm aufsah. Er fand eine junge Frau in Stamm, die er zu seiner machen wollte. Doch Nahuc war dagegen, also wartete unser Sohn, jedoch führte das eine zum anderen und sie wurde schwanger. Nachdem Nahuc, nach einem Kampf zurückkehrte und alle Männer außer ihm ums Leben kamen, spürte ich die Angst ihn zu verlieren. Ich gab ihm das einzige was ihn schützen würde und immer an meiner Seite hielt, das ewige Leben. Als unser Sohn alt genug wurde und die nötige Macht besaß, den Stamm zu übernehmen, tötete Nahuc ihn. Erst da erkannte ich seine Machtgier und dass er alles dafür tun würde, denn ich hatte ihm alles gegeben. Doch eines hatte ich nicht bedacht, dass er auch mich als Gefahr ansehen könnte. Ich hatte ihm das ewige Leben gegeben, also konnte ich es ihm wieder nehmen. Während er meinen Körper tötete, wurde sein Herz von Schmerz, Hass und Liebe zerfressen."

Geschockt über die Geschichte meiner Vergangenheit, sank ich auf den Boden und entspannte meine müden und entsetzten Knochen, sowie auch meine Gedanken. Es war so viel. So viel was ich erfuhr, dass ich kaum hinterher kam. Sie, nein, ich war die Mondgöttin, zumindest meine Seele war es. Ich hatte Nina gerettet indem ich ihr einen Teil meiner Seele geschenkt habe. Ich habe sie zu einem von uns gemacht, was ihren seltsamen Geruch erklärte! Sie roch nach Wolf! In meinem Kopf drehte sich alles. Die fehlenden Puzzleteile flogen umher und suchten ihren rechtmäßigen Platz. Sie mussten nur noch zusammen gesetzt werden. Und das tat ich jetzt. Ich addierte eins und eins zusammen. "Der Wolf, mein Schicksal, das ist Nahuc nicht war?" "Erneut liegst du richtig.", sagte sie sanft. Das heißt er lebt jetzt schon seit Hunderten von Jahren. Kathawee hockte sich zwischen die Blumen auf die Wiese und im Gegensatz zu mir, sah sie auch dabei Edel und wunderschön aus.
"Du hast gesagt wir sind eins.", sagte ich nach reichlicher Überlegung. "Das heißt, dass ich ihn töten kann." Ihr Lächeln schwank erneut in Mitleid um. "Ja das kannst du. Dennoch wirst du es nicht schaffen. Dein Inneres sträubt sich dagegen, denn du liebst ihn." "Nein!", sagte ich bestimmend. Es war nicht nur an Kathawee gerichtet, es ging auch an mich selbst. Ich musste meine Gefühle klar im Griff haben. "Was ich für Nahuc fühle, ist Liebe, doch diese Liebe hat ihren Ursprung nicht in mir, sondern in dir. Wir sind eins, ja, aber dennoch bin ich ein anderes Individuum Wir sind zwei Seelen im Körper einer Person. Du liebst Nahuc und diese Liebe ist stark, sodass sie auf mich über geht, jedoch ist meine Liebe für Ethan größer!"
Da war es wieder. Dieses schimmern in ihren Augen, als sieht sie mich wieder anders. Als eine Aussicht. Eine Aussicht auf Frieden.

Der Wolf in MirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt