Kapitel 1

1K 23 1
                                    

Schon seit Stunden saß ich im Auto und fuhr die Autobahn entlang. Ich war müde und konnte es kaum mehr erwarten, endlich in Ellmau anzukommen und mich dann erstmal auszuruhen. 'Wenn der dreistündige Stau vorhin nicht gewesen wäre, könnte ich schon längst da sein!', dachte ich genervt und verfluchte mich selbst dafür, nicht doch den kleinen Umweg über die Landstraße genommen zu haben.
Langsam dämmerte es schon und ich riskierte einen Blick auf mein Handy, es war kurz nach 19 Uhr. Außerdem zeigte es mir noch neun verpasste Anrufe und 6 Nachrichten an, die ich aber ignorierte und das Handy einfach wieder auf den Beifahrersitz schmiss. "Du kannst mich mal kreuzweise!", flüsterte ich und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Erneut leuchtete der Display auf, wieder war es dieselbe Person die mich anrief und ich umklammerte das Lenkrad fester.
Die Tränen liefen mir nun über die Wangen und schnell wischte ich sie mir mit dem Ärmel ab. 'Er ist keine verdammte Träne wert!', redete ich mir stumm ein und schluckte hart. 'Keine einzige, die du in den letzten Tagen vergossen hast!' Aber es war nicht einfach, sie zu unterdrücken.
Ich versuchte mich abzulenken und an meine bevorstehende Auszeit in Ellmau zu denken. Dort würde ich die nächsten zwei Wochen verbringen, um neue Kraft zu tanken für das, was mir danach noch bevorstand. Vielleicht war es feige einfach abzuhauen, aber ich musste jetzt erstmal zur Ruhe kommen und dann würde ich weitersehen.
Nochmals versuchte er mich zu erreichen, weshalb ich jetzt ohne nachzudenken rechts ran fuhr und ausstieg. Ich lehnte mich an die Autotür und weinte, bis ich begann mich umzusehen. Ich war mitten auf einer Landstraße stehen geblieben, die Umgebung kam mir bekannt vor. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein großer Hügel, der an einer Stelle aussah wie eine Felswand. 'Von dort muss man eine schöne Aussicht haben.', dachte ich nun und überquerte die Straße, um den Hügel zu erklimmen. Mit meiner Vermutung sollte ich recht behalten, man konnte von hier oben aus ziemlich weit sehen und gerade verschwand die Sonne hinter den Bergen. Es war so wunderschön wie damals, als ich als Kind hier gewesen war.
Ich war wie gefesselt von diesem wunderschönen Anblick. Als auch noch Wind aufkam, atmete ich tief durch und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ich hörte Vögel zwitschern, auch wie die Blätter der Bäume durch den Wind raschelten. Allmählich entspannte ich mich und öffnete meine Augen wieder. Noch stand ich mitten auf dem Hügel, lief aber nach vorne zur Felskante. Dort sah man noch viel mehr und ich beobachte einfach weiterhin die Sonne, wie sie unterging und dachte nach.
Die letzten Monate waren die Hölle für mich gewesen, drei Tage hatte ich nun viel geweint und mich in meiner Wohnung verbarrikadiert gehabt. Jetzt stand ich hier, kilometerweit weg von zu Hause und fühlte mich frei. Auch wenn es wahrscheinlich nur für wenige Minuten war, ich konnte das erste Mal seit dem Vorfall mit Stefan wieder klar denken und etwas fühlen. Als ich ihn mit meiner besten Freundin in unserem Bett erwischt hatte, das war womöglich der Anstoß gewesen und dies musste mich aus meiner monatelangen Blindheit geholt haben. Es waren Gefühle von Freiheit und Zuversicht, aber auch Angst. Angst davor zurückzukehren, wenn die zwei Wochen vergangen waren. Dann würde ich meine Wohnung räumen und irgendwo hingehen, wo mich keiner vermuten würde. Nur würde ich ihn dann vermutlich wiedersehen und ob er mich erneut gehen lassen würde, bezweifelte ich.
Schnell konzentrierte ich mich wieder auf die Landschaft, inzwischen stand ich ganz nah an der Kante und merkte es nicht einmal. Kurz sah ich hinunter und es waren schon einige Meter, die es hier hinab ging. Das hatte von unten nicht so ausgesehen. Gedankenverloren zog ich meine Jacke enger und spürte sofort einen stechenden Schmerz, der von meinen verletzten Rippen ausging. Dieser wurde aber gleich wieder erträglich und ich starrte einfach wieder verträumt in die Ferne, hörte wie ein Auto vorbei fuhr. Aber das es plötzlich abbremste bekam ich nicht wirklich mit, erst als jemand schrie.
"Hey, nicht springen!", rief eine männliche Stimme und ich wollte mich gerade umsehen, passte nicht auf wo ich hintrat, rutschte an der Kante ab und fiel in's Leere.
Benommen öffnete ich die Augen, kniff sie aber wegen dem grellen Licht gleich wieder zusammen. Ich blinzelte einige Male und gewöhnte mich langsam an die Helligkeit, weshalb ich mich nun auch umsehen konnte. Alles um mich herum war steril weiß, ich befand mich in einem Krankenhaus. Dessen war ich mir sofort bewusst, denn ich erkannte die Gerüche von Desinfektionsmitteln und mehr. Den typischen Krankenhausgeruch eben, den ich schon viele Jahre lang ertrug und er mich deshalb auch nur wenig störte. Mehr interessierte ich mich dafür, warum ich hier lag und da fiel es mir schlagartig wieder ein.
'Du bist eine Felswand hinab gestürzt und lebst noch!', dachte ich erleichtert und erblickte nun mein Bein, das eingegipst war. An meinem Handrücken hatten sie einen Zugang gelegt und eine Infusion angeschlossen, deren Flüssigkeit langsam hinaus tropfte und so in den Schlauch gelangte. Das beobachtete ich etwas, da es beruhigend auf mich wirkte, während ich angestrengt nachdachte. Wie war ich hier hergekommen? Wie lange lag ich schon hier? War ich noch anderweitig verletzt? Fragen über Fragen, aber keine Antworten. Plötzlich verspürte ich einen pochenden Schmerz im Kopf und ich rieb mir die Schläfen. Dabei entdeckte ich einen Verband am anderen Handgelenk und berührte auf der rechten Seite meiner Stirn ein dickes Pflaster. Es schien als wäre ich ziemlich verletzt, aber das interessierte mich plötzlich herzlich wenig. Ich wollte nur hier raus, weshalb ich mir den Zugang entfernte und mit wackeligen Beinen zur Tür lief.
Dabei hielt ich mich an herumstehenden Möbelstücken fest, die aber dummerweise nicht auf meinem ganzen Weg verteilt standen. Mit dem Gips am Bein kam ich ohne Stützen nicht weit und als gerade die Tür geöffnet wurde, drohte ich umzufallen. Der Mann, der gerade hereingekommen war, stürmte gleich auf mich zu und hielt mich noch rechtzeitig davon ab. "Autsch!", japste ich erschrocken und sah in zwei wunderschöne, grüne Augen. "Wo wollen wir denn hin, junges Fräulein?", fragte er mit einer Stimme, die mir sehr bekannt vor kam. Es war die gleiche die mich so plötzlich erschreckt hatte, als ich gleich darauf in die Tiefe gefallen war.
"Lassen sie mich sofort los!", schrie ich und begann mich zu wehren. "Ganz ruhig, ich tu' ihnen doch nichts!", erwiderte der Mann und hielt mich weiterhin fest. "Loslassen oder ich schreie!", drohte ich ihm an und holte schon Luft, um mich auf einen lauten Schrei vorzubereiten.
"Wie sie wollen.", murmelte er unbeeindruckt und ließ mich die letzten paar Zentimeter, die ich noch vom Boden entfernt war, hinunter plumpsen.
"Heilige Scheiße!", fluchte ich schmerzerfüllt und biss mir danach sofort auf die Zunge. Normalerweise nahm ich solche Worte nämlich nicht in den Mund, zumindest nicht in Gegenwart von Fremden. "Na, na, na.. geflucht wird nicht!", tadelte der Unbekannte und lachte. "Sie wollten, dass ich loslasse und diesen Befehl hab ich befolgt.", fügte er noch hinzu. "Ja aber doch nicht so!", blaffte ich ihn an und er zuckte nur mit den Schultern. Dann richtete er sich auf und hob erstmal eine Akte auf, die anscheinend fallen gelassen hatte, um mich aufzufangen.
"Ist das meine Krankenakte?", fragte ich sofort und er nickte. "Sie sind nicht befugt..", weiter kam ich nicht, da ich plötzlich keine Luft mehr bekam. "Ich.. ich kann nicht.. atmen!", presste ich panisch hervor und versuchte krampfhaft Luft zu holen. "Das kommt davon, wenn man mit solchen Verletzungen einfach so aufsteht!", hörte ich den Mann sagen, aber es klang total weit weg. Inzwischen lag zusammengekauert auf dem Boden, hatte Angst kläglich zu ersticken. "Das haben wir gleich, keine Panik.", redete der Fremde beruhigend auf mich ein und ich merkte, wie er mich hoch hob. Behutsam legte er mich auf's Bett und setzte mir eine Sauerstoffmaske auf. "Ganz ruhig atmen, ein und aus.. ein und aus.." Ich tat was er mir sagte und langsam ging es wieder, sodass ich die Maske wieder abnehmen konnte. "Danke.", sagte ich heißer und atmete dann ganz ruhig weiter. "Keine Ursache, ich bin übrigens Doktor Gruber.", stellte er sich nun vor und ich nickte nur.
"Ich bin hier, weil ich nachsehen wollte wie es ihnen geht. Sie können sich bestimmt nicht daran erinnern, aber ich habe sie gestern hier her gebracht.", erzähle er nun. "Und wo genau bin ich?", verlangte ich nun zu wissen."In Hall im Krankenhaus.", war die Antwort und wieder nickte ich. Hier war ich ebenfalls schon einmal gewesen, aber es war lange her.
"Und wann kann ich gehen?", war meine nächste Frage. "Erstmal bleiben sie hier, ihre Verletzungen sind nicht gerade harmlos und außerdem hatten sie großes Glück. Sie haben die Felswand gerade so verfehlt, aber der Aufprall war sehr hart und sie hätten sich genauso gut das Genick brechen können. Ist ihnen das klar?", fragte er schon beinahe vorwurfsvoll. "Wenn sie mich nicht so erschreckt hätten, wäre mir gar nichts passiert!", herrschte ich ihn nun an und musste gleich darauf wieder schwer nach Luft ringen.
"Sie sollten sich noch lange Zeit schonen, mit einer Rippenfraktur ist nicht zu spaßen. Außerdem haben sie eine leichte Gehirnerschütterung, ihr Bein ist gebrochen und ihr Handgelenk geprellt. War also nicht ganz so erfolgreich, ihr todesmutiger Sprung von der Felskante."
Ich glaubte, mich verhört zu haben. "Moment, ganz langsam. Ich bin nicht gesprungen, ich stand lediglich da oben und sie haben mich erschreckt!", rechtfertigte ich mich nun und er sah mich verblüfft an. "Sie wollten gar nicht springen?", fragte er und ich schüttelte heftig den Kopf.
"Nein! Ich will in Ellmau Urlaub machen, da bringe ich mich doch nicht um!", erklärte ich nun vorwurfsvoll. "Aber von meiner Position sah das danach aus.", verteidigte er sich. "Sie wirkten auf mich sehr verzweifelt, als sie da oben standen und außerdem haben wir bei ihnen Hämatome und ältere Verletzungen diagnostiziert. Die Rippenfraktur war schon älter, hat sich durch den Sturz aber verschlimmert."
Augenblicklich senkte ich den Blick auf meine Hände, die zitterten. "Ich weiß und ich war deshalb auch bei keinem Arzt, ich hab mich selbst behandelt. Aber es wäre besser wenn sie jetzt gehen, verstanden? Raus hier!"
Doktor Gruber seufzte und stand auf. "Gut, ich gehe. Aber ich komme Morgen nochmal wieder, um mich nach ihnen zu erkundigen. Und ich schicke auch gleich mal eine Schwester zu ihnen, die Infusion muss wieder gelegt werden."
Daraufhin ging er und ich starrte weiterhin auf meine Hände, während mir Tränen über die Wangen kullerten, die ich nicht zurück halten konnte. 'Was fällt diesem Doktor Gruber eigentlich ein?!', dachte ich wütend.

Die BergdoktorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt