Irgendwann war ich doch eingeschlafen, wachte aber gegen vier Uhr schon wieder auf und rannte erstmal auf Toilette. Ausgerechnet heute hatte ich einen Anfall von Morgenübelkeit, was ich natürlich sehr gut gebrauchen konnte. Mehrere Tage war Ruhe gewesen und nun ging es mir so schlecht, was wahrscheinlich auch ein wenig an der Aufregung lag.
Nachdem es vorüber war, duschte ich und zog mich danach an. Danach machte ich das Bett und kontrollierte nochmal, ob ich alles eingepackt hatte. Viel war es nicht, aber Ausweis und Arbeitsvertrag waren ziemlich wichtig. Das Medaillon von meiner Mutter würde mich begleiten, denn es gab mir ein Gefühl von Sicherheit wenn ich es trug. Bis sieben Uhr verweilte ich noch in meinem Zimmer und hoffte die verbleibende Zeit würde endlich vergehen.
Um acht begann mein Arbeitstag, davor traf ich mich noch mit Professor Böning und der würde mir mitteilen wo ich gebraucht wurde. Die ersten paar Tage würde ich einem Oberarzt zugeteilt werden, der mir alles zeigte und auf mich acht gab. Schlüssel und Kleidung musste ich mir auch noch organisieren, diese Abläufe waren mir bereits bekannt und hier würde es wahrscheinlich nicht anders sein. Die Klinik in Hall war ein Krankenhaus wie jedes andere und deshalb würde ich mich schnell wieder an den Klinikalltag gewöhnen, was ich jedenfalls hoffte.
Als ich gerade die Tür geöffnet hatte, stand Susanne schon davor und hatte anscheinend anklopfen wollen. "Guten Morgen.", sagte ich überrascht. "Guten Morgen, ich wollte dir nur noch mal viel Erfolg wünschen und dir den hier bringen." Sie hielt mir einen dieser wiederverwendbaren Kaffeebecher hin, eine richtig süße Geste von ihr. "Ach Susanne, das ist lieb von dir!", meinte ich und nahm ihr den Becher ab der sogar gefüllt war. "Du musst den Spruch schon lesen.", erklärte sie mir. Der Becher war pink und mit weißer Schrift stand etwas darauf. "Ich schmeiß alles hin und werd' Prinzessin!", las ich laut vor und lachte. "Das ist ja mal absolut genial, Danke!" Gerührt umarmte ich Susanne. "Diese Plastikbecher im Krankenhaus kann man doch vergessen und den hab ich gestern zufällig entdeckt. Aber ich hab keinen Kaffee sondern Tee rein, wegen dem Baby."
Um herauszufinden was für ein Tee es war, nahm ich einen kleinen Schluck aus dem Becher. "Schmecken tut der Tee ja sehr gut, aber beim wach werden wird er mir nicht helfen.", sagte ich und musste gähnen. "Du wirst schon noch wach werden.", erwiderte Susanne. "Wann musst du denn anfangen?", fragte sie. "Um acht, sollte aber ein bisschen früher da sein. Deshalb muss ich jetzt auch los und Danke nochmal für die schöne Überraschung." Wir umarmten uns ein weiteres Mal. "Nur eine Kleinigkeit, die dir hoffentlich nützlich sein wird. Und heute Abend musst du mir unbedingt erzählen wie dein erster Tag gelaufen ist." Das versprach ich ihr hoch und heilig, dann musste ich aber wirklich los.
Kaum angekommen stand ich schon vor dem Büro von Professor Böning, dieser ließ mich diesmal aber warten. Das Krankenhauspersonal ging rege seiner Arbeit nach und irgendwann blieb eine Frau stehen. "Guten Morgen, sind sie Dr. Morrow?", fragte sie mich freundlich und ich nickte. "Ich bin Schwester Angelika, Professor Böning schickt mich. Es kam eine dringende Angelegenheit dazwischen und deshalb werde ich sie ein wenig herumführen."
Wir machten uns auch gleich auf den Weg und die Krankenschwester erklärte mir sehr viel. Sie war Stationsschwester der Chirurgie, auf der ich ihrem Wissen nach erstmal eingesetzt werden würde. Dank Angelikas Hilfe kam ich auch an meine Schlüssel und meine Kleidung, außerdem zeigte sie mir noch die Umkleiden und meinen eigenen Spind. Ich zog mich um und verstaute meine persönlichen Dinge gleich darin, währenddessen wartete Angelika draußen und war als ich aus der Umkleide kam auch nicht mehr allein. Sie unterhielt sich mit Professor Böning und einem anderen Arzt, den ich schon kannte.
"Guten Morgen, Frau Kollegin. Hat Schwester Angelika mich würdig vertreten?", erkundigte sich der Leiter der Klinik. "Ja, das hat sie.", erwiderte ich. "Sehr schön. Dann kann ich ihnen jetzt einen meiner Oberärzte vorstellen, Dr. Alexander Kahnweiler." Auch er schien mich wiederzuerkennen, da er mich genau ansah als wir uns die Hand gaben. "Ich glaube, wir haben schon mal Bekanntschaft miteinander gemacht.", meinte Dr. Kahnweiler nun." Ich war vor ein paar Wochen ihre Patientin.", half ich ihm auf die Sprünge. "Ah, genau! Sie sind diejenige, von der Felskante gesprungen ist und von Martin hier eingeliefert wurde.", erinnerte sich Alexander. "Ich bin nicht gesprungen!", stellte ich die Sache sofort richtig, obwohl ich das damals in seinem Beisein bestimmt auch schon gesagt hatte. Jetzt erinnerte ich mich plötzlich wieder daran, wie ich Martin eigentlich kennengelernt hatte und rechnete nach wie lange ich jetzt schon in Tirol war. Eigentlich waren zwei Wochen geplant gewesen, mittlerweile waren daraus fast schon zwei Monate geworden und es war eine Menge passiert. Und nie hätte ich gedacht irgendwann hier das Arbeiten anzufangen, vor allem nicht in einem Krankenhaus wie diesem. Das gehörte nicht zu meiner Lebensplanung, aber es kam ja immer anders als man es sich wünschte.
"Wenn sie sich schon kennen, umso besser. Denn Dr. Kahnweiler wird sie in ihrer ersten Zeit bei uns betreuen und damit kann er auch sofort anfangen. Es steht nämlich eine Operation an bei der sie, wenn sie jetzt schon möchten, assistieren dürfen." Natürlich sagte ich dazu nicht Nein und wenig später befand ich mich schon in einem OP-Saal. Gerade war die Narkose eingeleitet worden und wir warteten darauf, dass uns der Anästhesist das 'Ok' zum anfangen gab. Ich blickte mich unauffällig um, zwei der Personen hier kannte ich bereits. Dr. Kahnweiler und Schwester Angelika, alle anderen würde ich aber auch sicherlich noch kennenlernen.
Schließlich war der Patient in den Tiefschlaf gefallen und wir konnten beginnen. Es handelte sich um eine Appendektomie, also eine Blinddarm-Operation. Ich beobachtete alles genau und reichte dem Operateur gelegentlich die Instrumente an. "Für ihr erstes Mal stellen sie sich sehr gut an.", lobte Dr. Kahnweiler mich. "Genau genommen ist es nicht mein erstes Mal, aber ich stand schon lange nicht mehr im OP."
Seitdem ich meine Facharztprüfung abgelegt hatte um genau zu sein und danach war ich nur noch bei ambulanten Eingriffen in der Praxis meines früheren Arbeitgebers dabei gewesen. Dies war aber eindeutig eine Abwechslung und vielleicht würde aus mir letztendlich doch eine Chirurgin werden.
Ein paar Tage später hatte ich mich schon sehr an die Arbeit gewöhnt. Zwar war es stressig, aber das ließ sich nicht vermeiden und wenigstens kannte ich inzwischen gewisse Abläufe. Wenn ich nicht wusste wo ich etwas fand, konnte ich einfach nachfragen und bekam immer eine Antwort. Eigentlich hatte ich das Arbeitsklima in einem Krankenhaus ganz anders in Erinnerung, viel hierarchischer und weniger kollegial. Aber hier konnte ich mir vorstellen zu bleiben, vorausgesetzt mein erster Eindruck war keine Täuschung und es würde bald ein böses Erwachen geben.
Da ich gerade nicht wirklich etwas zu tun hatte, setzte ich mich auf einen der Stühle im Gang. Ich musste unbedingt kurz durch atmen, denn mir war immer noch ganz flau im Magen und außerdem quälten mich nun zusätzlich noch Rückenschmerzen. Wahrscheinlich weil ich heute Morgen lange hinter dem OP-Tisch gestanden hatte und bis jetzt umher gelaufen war. Aus meiner Kitteltasche holte ich einen Schokoriegel hervor, den ich mir vorhin gekauft hatte und noch nicht dazu gekommen war ihn zu essen. Das holte ich jetzt nach und biss gerade hinein als das Telefon, das ich zusätzlich zum Pieper bei mir trug, zu klingeln begann. Schnell kaute ich und schluckte alles hinunter, bevor ich abnahm.
Es war Dr. Kahnweiler der mir mitteilte, dass soeben ein Notfall eingetroffen war und ich zu ihm kommen sollte. Also machte beeilte ich mich nach unten zu kommen und während ich die Treppen hinab eilte, aß ich noch den Rest meines Riegels auf. Bis jetzt hatte ich noch keine großartigen Heißhungerattacken, aber das konnte sich ganz schnell ändern und als schwangere Ärztin in einer Klinik konnte es ziemlich lustig werden.
Unten angekommen kamen mir die Rettungssanitäter schon mit dem Patienten auf der Trage entgegen, gefolgt von Alexander und Martin. Der erzählte seinem Kollegen was passiert war und am liebsten hätte ich mich auf dem Absatz umgedreht, noch bevor er mich entdeckte. Nur konnte ich das nicht tun und schloss mich wohl oder übel der Gruppe an. Das ich ihm früher oder später begegnen würde hatte ich mir schon gedacht und erstmal klärte er alles wichtige mit Alexander, obwohl man ihm seine Verwirrung anmerkte.
Unser Patient war ungefähr 25 Jahre alt und war beim Klettern verunglückt. Gerade war er intubiert und wir würden wahrscheinlich operieren müssen, aber zunächst brauchten wir ein MRT. "Darum kümmern sie sich.", wies Dr. Kahnweiler mich an. "Natürlich.", antwortete ich und war froh, so nicht länger in Martins Nähe bleiben zu müssen.
Ich lief den Pflegern schon hinterher, die den Mann mittlerweile übernommen hatten, um ihn zur Untersuchung zu bringen. "Ich komme gleich wieder.", hörte ich Martin zu Alexander sagen. "Gem, warte mal." Ich ignorierte seine Rufe, aber er hatte mich schnell eingeholt. "Hey, anscheinend hast du mich wohl nicht gehört.", sagte Martin und lächelte. "Nein, ich war gerade im Gedanken.", log ich und zwang mich ebenfalls zu einem Lächeln. "Also, was gibt's? Ich hab nämlich nicht lange Zeit, der Patient braucht schließlich ein MRT.", versuchte ich ihn abzuwimmeln. "Das weiß ich, aber warum kümmerst du dich darum. Ich meine.. was machst du überhaupt hier?", wollte Martin nun wissen. "Arbeiten, das ist doch eigentlich offensichtlich.", entgegnete ich und er nickte. "Ja, das ist nicht zu übersehen. Seit wann denn und wieso nimmst du hier eine Stelle an, obwohl du irgendwann wieder nach München gehst?"
Ihn schien das wirklich zu interessieren. "Weil ich immer noch nicht weiß, wann ich zurück nach München fahre und ich unbedingt Geld brauche." Auch das war nicht die ganze Wahrheit, denn ich überlegte ja komplett zu bleiben. Nur sollte er das noch nicht erfahren und ich hatte auch keine Lust ihm jetzt davon zu erzählen. "Dann freut es mich, dass du hier arbeiten kannst. Aber übernimm dich nicht und lass dir von Alexander nichts gefallen, ja?", bat er mich. "Martin, ich komm schon klar.", versicherte ich ihm und verkniff mir, dabei die Augen zu verdrehen. "Ich mein ja nur. Und wie geht's dir sonst so, ist mit dem Kind alles in Ordnung?"
Angesichts das wir uns wieder eine Weile lang nicht gesehen hatten, konnte ich ihm die ganzen Fragen nicht verübeln. "Alles bestens. Und bei dir?", fragte ich der Freundlichkeit wegen, obwohl ich eigentlich lieber schon bei meinem Patienten wäre. "Läuft auch soweit alles.", erwiderte Martin und blickte dann auf seine Armbanduhr. "Andrea hat in einer halben Stunde einen Termin bei Dr. Wagner, da kann ich gleich hier bleiben.", offenbarte er mir nun. "Oh, das ist ja praktisch.", meinte ich. "Sie lässt dich also schon zu den Untersuchungen mitkommen?" Martin nickte lächelnd. "Ja, wir sind sozusagen wieder zusammen. Zwar wird es noch ein wenig dauern, bis sie mir vollkommen verziehen hat, aber allein um des Kindes Willen wollen wir uns zusammenreißen."
Das versetzte mir einen gefühlten Stich ins Herz, aber ich hatte ja erst zwischen den Beiden vermittelt. Nur war meine Absicht eine andere gewesen, Andrea sollte lediglich in Tirol bleiben damit Martin sein Kind ab und an sehen konnte, mehr nicht. Denn ich hatte mir tatsächlich eingebildet Martin würde etwas für mich empfinden, zumindest hatte es sich so angefühlt und damit hatte er mich beinahe um den Verstand gebracht. Inzwischen war ich aber wieder klar im Kopf und ich musste es so hinnehmen, wie es war. "Gute Entscheidung, ein Kind braucht beide Elternteile."
Und das stimmte natürlich, es war das Beste für das ungeborene Baby. Ich wünschte mir genauso einen fürsorglichen Vater für meinen Nachwuchs, jedoch saß der hinter Gittern. "Damit hast du recht und ich habe es nur dir zu verdanken, dass Andrea mir noch eine Chance gibt."
Martin umarmte mich einfach, während ich mit den Tränen kämpfte und mich schnell wieder aus seinen Armen befreite. "Ich muss jetzt wirklich zu meinem Patienten.", sagte ich. "Geh ruhig, es hält dich keiner auf. Und mal ganz unter uns.." Er beugte sich ein wenig vor, damit er mir etwas zuflüstern konnte. "So ein Blödsinn, Dr. Kahnweiler ist schließlich mein Oberarzt!", stellte ich klar nachdem er mir weiß machen wollte, Alexander hätte Gefallen an mir gefunden.
"Er beobachtet uns schon die ganze Zeit und wirkt sehr eifersüchtig." Unauffällig sah ich hinüber und Martin lag richtig, jedoch wollte ich unser Gespräch an dieser Stelle unterbinden. "Der wird auf dich warten, genau wie die Kollegen beim MRT auf mich. Viel Glück bei eurem Termin später."
Daraufhin ging ich davon und ordnete erstmal wieder meine Gedanken.