Ich musste natürlich noch mit Susanne sprechen, aber sie hatte nichts dagegen und ich fuhr gleich nach Söll zur Polizeidienststelle. Den Weg hatte ich mir vom letzten Mal noch gemerkt, weshalb ich kein Navi benötigte und wenig später dort ankam.
Herr Stretz erwartete mich bereits und ich musste nicht warten, sondern er nahm mich gleich mit in ein Büro. "Ich hoffe mein Anruf kam nicht allzu ungelegen. Bitte, nehmen sie Platz." Er deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch und ich setzte mich hin. "Nein, er kam mir ehrlich gesagt gerade recht.", gestand ich ihm. Denn hätte er nicht angerufen, hätte die Diskussion mit Martin bestimmt noch länger gedauert. "Aber bitte erklären sie mir doch, warum ich so schnell herkommen sollte.", bat ich den Beamten. "Sicher, aber zuvor muss ich noch etwas holen." Herr Stretz verließ kurz den Raum und kehrte wenig später zurück, in der Hand hatte er eine Plastiktüte. "Er kommt aber nicht doch noch frei, oder? Mein Ex bleibt wie versprochen in Untersuchungshaft oder kommt er etwa raus?" Ich war plötzlich sehr nervös und hatte Angst, dass der Polizist mich vielleicht hierher bestellt hatte, um mir das mitzuteilen.
"Nein, Frau Morrow. Herr Lorenz bleibt wie geplant in U-Haft, vor der Gerichtsverhandlung kommt er definitiv nicht mehr auf freien Fuß und danach bestimmt auch nicht. Da kann ich sie beruhigen, deshalb sind sie nicht hier." Ich atmete erleichtert auf. "Meno male!", murmelte ich erleichtert, was so viel wie 'Gott sei Dank' hieß. "Haben sie etwas gesagt?", fragte Herr Stretz und ich schüttelte nur den Kopf. Ich musste mir dieses ständige Murmeln oder Fluchen auf italienisch wirklich abgewöhnen, andererseits würde ich es wohl kaum schaffen. So lange ich denken kann, gehörte das fest zu meinem Verhalten. "Dann habe ich mir das wohl nur eingebildet. Jedenfalls haben wir bei Herr Lorenz etwas sicher gestellt und das gehört wohl ihnen." Er legte nun die Tüte vor mir ab und ich konnte schon erkennen, was sich darin befand.
"Diese Dinge gehören allerdings mir.", meinte ich. "Darf ich denn?", fragte ich sicherheitshalber nochmal nach und der Polizist nickte. "Aber natürlich.", sagte er und ich nahm die Tüte an mich. Ich öffnete sie und griff hinein, heraus holte ich zunächst zwei Geldkarten. Eine davon gehörte zu meinem Konto und die andere gehörte mir sozusagen ebenfalls, jedoch hatte ich sie noch nie benutzt. Meine Eltern hatten für jedes ihrer Kinder ein Konto eröffnet und regelmäßig Geld darauf eingezahlt, über das wir irgendwann selbst verfügen sollten. Meine Geschwister taten dies seitdem sie volljährig waren, ich hatte dieses Geld niemals annehmen wollen. Als es dann zu diesem fatalen Streit mit meinem Vater gekommen ist und ich weiter weg gezogen bin, habe ich wenigstens einer meiner Schwestern mitgeteilt wo ich mich aufhielt und sie hatte es anscheinend unserer Mutter sofort erzählt. Denn ein paar Tage später kam ein Brief zurück, der mich zu Tränen gerührt hatte und außerdem hatte sich darin diese Karte befunden. Meine Mutter wollte sicher sein, dass ich wenigstens finanziell abgesichert war. Ob mein Vater davon wusste oder nicht, darüber war ich nicht aufgeklärt worden. Aber vermutlich nicht, ich war laut ihm nämlich nicht mehr seine Tochter.
Schnell legte ich die Kärtchen auf den Tisch vor mir und holte als nächstes ein Schmuckstück aus der Tüte. Es war ein silbernes Medaillon verziert mit einem persönlichen Schriftzug, meinem Namen und Geburtsdatum, sowie meinem Geburtstein. Auch dies war ein Geschenk meiner Eltern und all meine Geschwister besaßen so eine besondere Kette. Für meine Mutter war es eine Art Tradition, die ich wunderschön fand. Aber jetzt sah ich es mir nicht an, sondern legte es ebenfalls auf den Tisch. Ansonsten hätte ich womöglich angefangen zu weinen und das wollte ich jetzt einfach nicht riskieren.
Zuletzt befand sich nur noch ein kleiner Gegenstand in der Tüte, nämlich ein Ring. Diesen betrachtete ich nachdenklich und wurde automatisch daran erinnert, wie Stefan ihn mir damals an den Finger gesteckt hatte. Der Abend war perfekt gewesen, er hatte sich so viel Mühe mit seinem Heiratsantrag gegeben und nie hätte ich geglaubt das unsere Beziehung auf diese Weise endete. "Warum übergeben sie mir diese Sachen erst jetzt?", fragte ich um nicht noch tiefer in meinen Gedanken zu versinken und legte den Ring zu den anderen Dingen. "Wir mussten die Konten erst überprüfen und das dauert seine Zeit.", erklärte Herr Stretz mir. "Verstehe. Aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass mein Ex sie abgeräumt hat. Und den Schmuck wollte er bestimmt verpfänden, jedenfalls schätze ich ihn so ein." Der Kommissar nickte. "Damit liegen sie gar nicht so falsch, denn so etwas in der Art hat er ausgesagt. Das übrige Geld von dem einen Konto hat er benutzt um hierher zu kommen und hätte das nicht gereicht, hätte er den Schmuck benutzt um genug Geld für die Rückfahrt aufzutreiben. An ihre Ersparnisse auf ihrem anderen Konto kam er nämlich nicht ran, da ist alles noch drauf."
Ich war erleichtert und froh, dass ich ihm nie die Geheimzahl des Zweitkontos verraten hatte. "Wie viel ist es genau?", fragte ich, da ich nie nachgeschaut hatte was meine Eltern über die Jahre für mich angespart hatten. "Ich denke es ist mehr als genug, damit sie mit ihrem Nachwuchs ein neues Leben beginnen können.", erwiderte Herr Stretz lächelnd. "Das klingt wunderbar." Wohl oder übel würde ich das Ersparte nun verwenden müssen, aber ich hatte schließlich einen wichtigen Grund dafür. "Und das ist es auch. Ich sage ihnen jetzt etwas ganz im Vertrauen, denn eigentlich müsste ich meine Meinung für mich behalten." Nun war ich gespannt, was er mir erzählen würde. "Ich verabscheue Männer die Frauen misshandeln und das seitdem ich denken kann. Mir sind schon viele solcher Fälle begegnet und ihrer wird nicht der letzte sein, das weiß ich. Nur ich möchte, dass sie jetzt nach vorne schauen und ihr Leben nicht mehr von Angst bestimmen lassen." Ich nickte leicht. "Danke, dass werde ich definitiv versuchen.", antwortete ich und verstaute meine zurückgewonnenen Dinge in meiner Tasche. Dann verabschiedete ich mich von dem Beamten, der meiner Meinung nach den richtigen Beruf für sich gewählt hatte und verließ das Präsidium.
Ich setzte mich ins Auto und fuhr ein wenig durch die Gegend, bis ich eine Bank gefunden hatte. Nachdenklich betrachtete ich die Kontokarte von meinen Eltern und war mir nicht sicher, ob ich dieses Geld wirklich benutzen wollte. Aber angesichts meiner Lage, blieben nicht viele Optionen offen und ich entschied mich dafür.
Ich ging in die Bank und wenigstens stand keine ganze Schlange vor dem Geldautomaten an. Lediglich eine ältere Dame war vor mir dran und ich wartete geduldig, bis sie fertig war. Währenddessen rechnete ich grob im Kopf aus, wem ich wie viel Geld schuldete und es war nicht gerade wenig. Außerdem holte ich zunächst noch schnell meine Kontoauszüge und überprüfte so, ob auf meinem eigentlichen Konto wirklich nichts mehr vorhanden war und der Polizist hatte die Wahrheit gesagt. Kein Cent befand sich mehr darauf, weshalb ich gleich die nächste Karte in den Automaten schob und anschließend ungläubig auf den Kontostand auf dem Papier starrte. Denn ich besaß sozusagen ein kleines Vermögen, mit dem ich problemlos über die Runden kommen würde und war meiner Mutter in diesem Moment sehr dankbar.
Ich hob genügend Geld ab, damit ich meine Schulden begleichen konnte und gleichzeitig noch etwas für mich selbst übrig blieb. Danach fuhr ich zurück zum Gasthof und nachdem ich Susanne erzählt hatte warum genau die Polizei mich angerufen hatte, war sie sehr erleichtert und meinte ich hätte den Rest des Tages frei. Das kam mir ganz gelegen, denn so konnte ich später noch zum Gruberhof fahren. Ich wollte Hans und Martin das Geld persönlich vorbei bringen, also zählte ich es ab und steckte es in zwei Briefumschläge. Susanne hatte mir den genauen Betrag genannt, den Martin hier für mich gezahlt hatte und diesen würde er jetzt auf einmal von mir zurück bekommen. Und da mein Auto lange bei ihnen auf dem Hof gestanden hatte, bekam Hans von mir ebenfalls etwas. So konnte er wenigstens nicht behaupten, ich hätte meine Schuld nicht beglichen.
In das für Martin gedachte Kuvert steckte ich zusätzlich noch das Ultraschallbild von Andrea, es gehörte schließlich ihm und ich konnte nicht wirklich etwas damit anfangen. Erneut setzte ich mich ins Auto und machte mich auf den Weg zum Gruberhof.