Kapitel 12

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Die Nacht verlief weitestgehend ruhig, zumindest bis ich erneut von einem Albtraum geplagt aufwachte. Ich hatte Stefan vor mir gesehen, wie er mich wieder einmal misshandelt hatte und meine ehemalige beste Freundin Laura war einfach nur lachend daneben gestanden und hatte zugesehen. Schweißgebadet saß ich im Bett und glücklicherweise hatte ich nicht geschrien. Ansonsten hätte ich, wie ich es Martin schon prophezeit hatte, wirklich das ganze Haus aufgeweckt.
Die Uhr auf meinem Handy verriet mir, dass es erst fünf Uhr in der Früh war. Eigentlich noch etwas zu bald zum Aufstehen, aber an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Also beschloss ich duschen zu gehen, da bestimmt noch keiner außer mir wach war und ich später nicht das Bad blockieren wollte. Ich setzte mich auf die Bettkante und gähnte ausgiebig, bevor ich aufstand und nach zwei Schritten an etwas hängen blieb. Mir fiel ein, dass Martin hier auf dem Boden hatte campieren wollen und das hatte er tatsächlich getan. Ich leuchtete mit meinem Handy den Boden ab und stieg so über ihn drüber, dann holte ich mir frische Klamotten aus dem Koffer. Die gingen mir langsam aber sicher wieder aus, aber Susanne hatte sie schon einmal gewaschen und vielleicht würde sie es nochmal tun. Oder ich fragte Lisbeth, ob ich ihre Waschmaschine benutzen durfte. So ganz wohl dabei fühlte ich mich nicht, aber eine andere Möglichkeit würde ich wahrscheinlich nicht haben.
Martin drehte sich auf die andere Seite und ich verhielt mich ganz still, damit er nicht aufwachte. Er schlief aber weiter und ich ging leise aus dem Zimmer, um das Bad zu suchen. Als ich es gefunden hatte, schloss ich mich dort ein und stellte mich erstmal unter die Dusche. Die Wunden brannten dadurch höllisch, aber es tat auch sehr gut und deshalb blieb ich länger als nötig unter dem heißen Wasser stehen. Als ich fertig war, hüllte ich meinen geschundenen Körper in ein großes Handtuch und machte mir mit einem kleineren wie immer einen Turban auf dem Kopf. Nun machte ich mich auf die Suche nach irgendeiner Salbe, mit der ich meine Verletzungen etwas versorgen konnte. Und ich war gerade fündig geworden, als es plötzlich an der Badezimmertür klopfte.
Ich beschloss erstmal nicht zu reagieren, aber das Klopfen wurde immer lauter und die Person vor der Tür gab sich mittels ihrer Stimme zu erkennen. "Lilli, bist du da drin? Komm raus, ich muss auch ins Bad!" Es war Hans, der Bruder von Martin. "Lilli!", rief er erneut und klopfte abermals an. Deshalb musste ich jetzt einfach aufmachen, wenn auch nur mit einem Handtuch bekleidet. Also ging ich zur Tür und schloss auf, Hans war sichtlich verwirrt. "Guten Morgen.", sagte ich schüchtern. "Morgen.", erwiderte Hans knapp. "Ich.. also ich hab nur schnell geduscht und wäre auch gleich fertig.", erklärte ich ihm und glücklicherweise stieß Martin auf einmal hinzu. "Guten Morgen, ihr Beiden. Gibt's hier ein Problem?", fragte er seinen Bruder direkt. "Ich muss ins Bad.", antwortete dieser ungeduldig. "Da kannst du auch rein, wenn Gemma fertig ist. Du brauchst doch sicher nicht mehr lange, oder?" Sofort schüttelte ich den Kopf. "Höchstens noch fünf Minuten, ich beeil mich!", versicherte ich ihnen. "Und auch wenn es sechs Minuten dauert, ist das nicht schlimm. Komm dann einfach nach draußen, runter auf die Terrasse. Dort frühstücken wir immer."
Er zog seinen Bruder einfach mit sich und ich schloss mich wieder im Bad ein, dort erledigte ich nun alles im Eiltempo. Ich trocknete mich richtig ab, schlüpfte in meine Klamotten, kämmte mir meine mittlerweile halbwegs trockenen Haare durch und sammelte meine ganzen Sachen wieder ein. Gerade als ich aus der Tür trat, kam mir ein Mädchen entgegen, vermutlich war das Lilli. "Jetzt kann ich ja rein!", meinte sie fröhlich und war gleich darauf im Badezimmer verschwunden. Auch Hans kam wieder und guckte ziemlich sauer, als er feststellte, dass er nochmal warten musste.
Ich brachte mein Zeug schnell in das Gästezimmer und ging wie Martin es mir gesagt hatte nach draußen. Gleich entdeckte ich den Platz, der wohl die besagte Terrasse sein musste. Lisbeth und Martin saßen dort schon am Tisch. "Guten Morgen. Wie geht's dir?", fragte Lisbeth. "Guten Morgen. Schon viel besser, Danke.", antwortete ich ihr. "Das freut mich. Setz dich ruhig hin und nimm dir was du magst, die anderen zwei sollten auch gleich kommen." Da ich Hunger hatte, nahm ich mir auch gleich ein Brötchen. Hans kam kurze Zeit später aus dem Haus und setzte sich ebenfalls an den Tisch, er sah immer noch sehr genervt aus. "Guten Morgen. Was ist denn mit dir los?", fragte seine Mutter ihn. "Ständig ist das Bad belegt, jetzt is die Lilli drin! Ich geh nachher rein, wenn ich was gegessen hab.", antwortete er und schenkte sich Kaffee ein.
"Tut mir leid, ich wusste nicht das du so früh aufstehst.", entschuldigte ich mich. "Ich muss die Viecher versorgen, da ist das doch logisch!", pampte er mich an. "Hans, es reicht jetzt! Nur weil du anscheinend schlecht geschlafen hast, musst du deine schlechte Laune nicht an uns auslassen und vor allem nicht an unseren Gästen!", wies ihn Lisbeth zurecht. "Da hat die Mama recht, Gemma kennt den Tagesablauf hier schließlich noch nicht.", pflichtete Martin seiner Mutter bei. "Jetzt weiß ich es ja und es wird nicht mehr vorkommen.", mischte ich mich nun wieder ein. "Soll das heißen, dass du vorhast länger bei uns zu bleiben?", wollte Hans wissen. "Sie kann bleiben, so lange sie möchte." Ich war froh, dass Lisbeth geantwortet hatte und damit war das Thema erstmal erledigt.
"Könntest du mir bitte die Kaffeekanne geben?", fragte ich Hans und er übergab sie mir ohne Kommentar. "Danke." Ich hatte gerade den Deckel etwas aufgedreht, als Martin mir die Kanne aus den Händen nahm. "Ähm.. was soll das?" Martin drehte die Kanne wieder zu und stellte sie weiter weg. "Du bist schwanger.", erinnerte er mich und ich seufzte. "Wer ist schwanger?", fragte Hans. "Ich.", klärte ich ihn auf. "Und da kann man früh ruhig eine Tasse Kaffee trinken, das schadet überhaupt nichts.", fügte ich noch hinzu und bedeutete Martin, mir die Kanne doch wieder zu geben und das tat er auch.
"Das wird ja immer besser!", murmelte Hans und stand auf. Lilli kam nämlich gerade aus dem Haus und er hatte schon fertig gefrühstückt, also konnte er endlich ins Bad. "Ich möchte jetzt ganz ehrlich nicht wissen, was er denkt.", teilte ich Martin hinter vorgehaltener Hand mit. "Soll er denken was er will. Nur weil er wieder Stress mit Klara hat, ist er so unausstehlich. Der beruhigt sich irgendwann schon wieder." Ich fragte nicht weiter nach und kam einfach zu dem Entschluss, dass Klara wohl Hans' Freundin war. Das war für mich zumindest die logischste Erklärung, auch sein Verhalten passte zu dieser Theorie.
Ich gab noch Milch und Zucker in meinen Kaffee, rührte diesen um und sah das Martin mich dabei kritisch beobachtete. "Nur diese eine Tasse, mehr werde ich nicht trinken.", schwor ich ihm und er nickte nur leicht. Dann fasste er sich in den Nacken und verzog das Gesicht, als ob er Schmerzen hätte.
"Der Boden war wohl doch nicht so bequem, mh?", fragte ich und grinste. "Ne, nicht wirklich.", gab Martin zu. "Ich hab gesagt du sollst in deinem Bett schlafen, aber wer nicht hören will muss fühlen." Ich wusste, dass ich ihn damit ärgerte. "Werden wir etwa frech, junge Frau?" Sofort schüttelte ich den Kopf. "Nein, niemals!", erwiderte ich und nahm einen Schluck aus meiner Tasse. Nun kam auch Lilli und setzte sich, nachdem sie sich noch kurz mit ihrem Vater unterhalten hatte. "Morgen. Papa hat ja mal wieder eine Laune." Martin und Lisbeth versuchten ihr zu erklären, woran das liegen konnte. "Der ist momentan nur noch schlecht drauf. Wer ist sie denn eigentlich, Oma?", wollte die Kleine nun wissen. "Das ist Gemma und sie wird ein paar Tage bei uns wohnen.", entgegnete Lisbeth. "Achso. Weil Papa hat sich auch aufgeregt, dass ja jetzt noch eine Frau im Haus ist, die früh das Bad blockiert. Bist du die neue Freundin vom Martin?"
Das sie mich das so direkt fragte, machte mich beinahe sprachlos. "Nein.. also ich bin sozusagen eine Freundin von ihm, ja. Aber nicht seine feste Freundin, so wie du gerade denkst.", stellte ich die Sache richtig und Lilli war mit dieser Antwort auch zufrieden. Martin grinste nur und warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr. "Ich muss dann mal los in die Praxis. Heute Mittag komme ich dich übrigens abholen und wir fahren zur Polizei, damit du deine Aussage machen kannst." Das hatte ich total vergessen. "Ich kann auch selbst fahren, sollte es zeitlich bei dir nicht hinhauen.", antwortete ich. "Das haut ganz sicher hin, ich muss ja auch noch aussagen. Wir fahren da gemeinsam hin und sparen so einmal Sprit." Er verabschiedete sich noch und ging.
Lisbeth, Lilli und ich blieben noch ein wenig sitzen. Als die Zwölfjährige dann zur Schule aufgebrochen war, räumten wir den Tisch ab. "Das ist sehr nett von dir, dass du mir hilfst.", meinte Lisbeth, während wir gerade die letzten Sachen in die Küche trugen. "Das ist selbstverständlich, schließlich darf ich hier wohnen.", entgegnete ich und half ihr dann noch die Küche auf Vordermann zu bringen. "Geschafft.", sagte Lisbeth zufrieden und ich ließ mich müde auf einem der Stühle nieder. "Ist dir nicht gut?", fragte die Bäuerin besorgt. "Mir ist nur wieder etwas schwindlig, das ist alles." Eigentlich sollte ich mich ja schonen, aber so anstrengend war das bisschen Aufräumen nun auch wieder nicht gewesen. "Leg dich doch noch ein, zwei Stündchen hin. Ich muss Hans sowieso jetzt im Stall helfen und da gibt's für dich nichts zu tun."
Diesen Vorschlag setzte ich dann auch in die Tat um und ging hoch ins Gästezimmer, wo ich mich aufs Bett legte und erstmal die Decke anstarrte. Die Hände hatte ich auf meinem Bauch gebettet und versuchte dort, schon irgendeine kleine Wölbung zu fühlen oder vielleicht sogar eine zaghafte Bewegung wahrzunehmen. Mir war klar, dass es dafür noch zu früh war. Aber trotzdem wusste ich, dass dort in mir etwas heranwuchs. Ein neuer Mensch, dem ich auf die Welt helfen und alles beibringen würde. Wie immer musste ich lächeln, wenn ich daran dachte. Und jetzt war ich noch glücklicher darüber, denn trotz allen Strapazen hatte mein Baby überlebt.
Irgendwann holte ich mir mein Buch aus dem Koffer, das ich mir letztens hier gekauft hatte und begann es endlich zu lesen. Es handelte sich um den ersten Teil der Harry Potter Reihe, die andere normalerweise schon in ihrer Kindheit zu lesen bekamen. Bei mir hatte es das nie gegeben, mein Vater hatte nur Bücher geduldet, die für die Schule einen Nutzen hatten. Jetzt da ich endlich Zeit dazu hatte, würde ich dieses Versäumnis nachholen.
Ich war so vertieft in mein Buch, dass ich Martin nicht bemerkte, der leise das Zimmer betreten hatte. "Harry Potter und der Stein der Weisen. Sind wir dafür nicht schon ein wenig zu alt?", fragte er und ich schreckte auf. "Kommst du immer rein, ohne vorher anzuklopfen?", stellte ich ihm eine Gegenfrage und er begann zu grinsen. "Ich hab angeklopft, sogar mehrmals.", erklärte er mir. "Hab nichts gehört.", gab ich zurück. "Weil du in dein Buch vertieft warst. Wahrscheinlich hätte da eine Bombe einschlagen können und du hättest es nicht gemerkt." Vielleicht stimmte das sogar. "Es ist eben gut geschrieben, man kann richtig in die Geschichte eintauchen und das liebe ich an Büchern.", erzählte ich ihm. "Das lesen Kinder.", betonte er nochmals, nur um mich aufzuziehen. "Ich durfte es nie lesen und außerdem hat die Verkäuferin in der Buchhandlung gesagt, dass man für Harry Potter nie zu alt ist. Aber was weißt du denn schon von guter Literatur." Ich tat absichtlich auf schnippisch und widmete mich wieder meinem Buch.
"Ein bisschen was weiß ich darüber schon und die Bücher sind nicht schlecht, das stimmt." Anscheinend dachte Martin, ich wäre wirklich sauer. "Gibt's eigentlich einen bestimmten Grund, warum du jetzt schon da bist?", wollte ich wissen und legte den Roman beiseite. "Roman konnte früher übernehmen, das heißt wir können jetzt schon zur Polizei fahren. Dann haben wir es wenigstens hinter uns." Ich seufzte und nickte leicht. "Ich mach mich schnell fertig.", meinte ich und kletterte aus dem Bett. "Mach das." Martin setzte sich auf die Bettkante, während ich meine Sachen zusammen suchte. Mein Ausweis und die Unterlagen des Krankenhauses, die meine Verletzungen dokumentierten, waren hierbei das wichtigste. Alles verstaute ich in meiner Tasche, zog mir noch eine dünne Jacke über und war fertig. "Ist dir mit der Jacke nicht zu warm?", fragte Martin, angesichts das Sommer war. "Das ist nur, damit man die ganzen blauen Flecken und Schürfwunden nicht so sieht. Die im Gesicht reichen schon, da muss ich das andere nicht auch noch öffentlich zur Schau stellen." Ich wollte einfach nicht, dass mich alle Leute schief von der Seite anstarrten und spekulierten, was mir wohl passiert war. Das Ganze jetzt gleich der Polizei beichten zu müssen, reichte schon vollkommen.
Martin kam zu mir, legte mir beide Hände auf die Schultern und sah mich eindringlich an. "Du brauchst dich deswegen nicht zu schämen. Der einzige, der sich schämen muss, ist Stefan und zwar für das was er dir angetan hat. Wenn ein Mann eine Frau oder sogar Kinder schlägt, hat der meiner Meinung nach keinerlei Ehre und normalerweise gehört mir dem dann dasselbe gemacht!" Ich blickte betroffen zu Boden. "Und was ist, wenn er dafür nicht bestraft wird? Wenn dieser ganze Aufwand mit den Anzeigen und den Verhandlungen danach umsonst ist? Dann wird er wieder frei sein und mich umbringen, so schnell wird er nicht aufgeben." Davon war ich überzeugt, denn seine Drohung war eindeutig gewesen. "Bevor er das erneut versuchen kann, wird er eine lange Haftstrafe absitzen und dafür werden wir sorgen.", versprach Martin mir.
"Gem, du musst nicht auf den Boden schauen.", erinnerte er mich und hob mein Kinn ein wenig an. "Und jetzt noch lächeln, dann bin ich zufrieden." Da er versuchte mich aufzumuntern, musste ich das automatisch. "So gefällt mir das schon besser." Auch Martin lächelte und wir sahen uns tief in die Augen, wie gestern im Wald, als wir uns geküsst hatten. 'Wir hatten uns geküsst!', fiel mir schlagartig wieder ein. "Was ist? Du schaust so entsetzt." Nur war ich gerade nicht entsetzt, sondern eher durcheinander. "Nichts, hab nur gerade an etwas gedacht." An was, das behielt ich lieber für mich. Ich wusste nämlich nicht, ob er darüber reden wollte und was es da überhaupt zu reden gab. "Woran denn?", hakte Martin aber nach und wieder war ich wie gefesselt von diesen Augen.
"Ist ein Geheimnis.", erwiderte ich und ahnte, dass es gleich wieder passieren würde. Unsere Gesichter kamen sich nämlich immer näher und als sie gerade nur noch wenig Zentimeter voneinander entfernt waren, klingelte Martins Handy und wir schreckten beide zurück. Schnell holte Martin sein Telefon hervor, nahm aber nicht wie immer gleich ab. "Willst du nicht ran gehen?", fragte ich verwundert. "Das kann warten, komm mit." Er schien es plötzlich eilig zu haben und gemeinsam gingen wir hinaus zu seinem Auto.

Die BergdoktorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt