Ich ließ mich zurück auf die Matratze fallen und hätte am liebsten getobt, aber stattdessen lag ich lange einfach nur ganz ruhig da und starrte die Decke an. In meinem Kopf ratterte es unaufhörlich und natürlich drehte sich alles nur um dieses Thema. Als ich hier angekommen war, hatte ich mitgekriegt wie Andrea mit Martin Schluss gemacht hatte. Zwar wusste ich nicht alles was vorher passiert war, jedoch den größten Teil und wahrscheinlich die wichtigsten Dinge.
Da gab es eine Julia und die Sache mit Susanne, sie war ja schwanger gewesen und hatte das Kind bei einem Unfall verloren. Es war lange unklar, ob nun Martin der Vater dieses Kindes war oder ihr Mann. Letztendlich hatte sich herausgestellt, dass ihr Baby doch von ihrem Mann war und dann geschah diese Katastrophe. Martin und Andrea hatten es nochmal miteinander versucht, nur sie hatte die Beziehung dann doch beendet und sich seit dem laut Martin nicht mehr gemeldet.
Jetzt gab es aber einen guten Grund und hätte er nicht versehentlich dieses Indiz fallen lassen, würde ich immer noch im Dunkeln tappen. Eigentlich konnte es mir auch vollkommen egal sein, aber das war es mir nicht. Martin war die letzten Wochen für mich da gewesen, hatte sich um mein Wohlergehen gesorgt und im Wald hatten wir uns geküsst. Schlagartig setzte ich mich wieder auf, als hätte mich irgendetwas total erschreckt. Was nur hatte dieser Kuss bedeutet? Martin war ein Freund, mehr nicht. Oder war da vielleicht doch mehr zwischen uns?
In seiner Nähe hatte ich mich von Anfang an sicher gefühlt und wenn ich an seine Augen dachte, schlug mein Herz fast Purzelbäume. Immer wenn er mich angesehen hatte, war in ihnen eine gewisse Wärme vorhanden gewesen. Aber vielleicht bildete ich mir das gerade nur ein. Schließlich war er was Frauen betraf kein unbeschriebenes Blatt und ich wollte bestimmt erstmal keine neue Beziehung. Also brauchte ich auch überhaupt nicht mehr darüber nachdenken, es war Martins Angelegenheit und nicht meine.
Um mit diese Tatsache selbst zu bestätigen, stand ich auf und warf das Ultraschallbild in die nächstgelegene Schublade. Dann begann ich meine Sachen auszupacken um mich etwas abzulenken, aber das klappte nicht wirklich. Außerdem hatte ich ja nicht viel zum auspacken, weshalb binnen von zehn Minuten der ganze Koffer leer war. 'Wie oft du den jetzt schon ein- und wieder ausgeräumt hast.', dachte ich und wusste nicht mal die genaue Zahl. Jedenfalls hatte ich es oft genug gemacht und es wurde Zeit, dass ich wieder irgendwo ein festes zu Hause fand. Allein schon wegen meinem Baby und vor allem wollte ich endlich wieder ein geregeltes Leben führen. Dazu gehörte auch, mit der Vergangenheit abzuschließen und nach vorne zu schauen. Ich wollte nicht länger auf Hilfe angewiesen sein und die Menschen dadurch in Schwierigkeiten bringen, das beste Beispiel dafür war Martin, der wegen mir Streit mit seinem Bruder angefangen hatte. Und erneut ertappte ich mich selbst, wie ich an ihn dachte und lief deshalb aufgescheucht im Zimmer umher. Dann legte ich mich ins Bett und versuchte ein wenig zu schlafen, wälzte mich aber von einer Seite auf die andere. Schließlich war es erst Mittag und ich verspürte kein bisschen Müdigkeit, im übrigen war ich die letzten Tage genug herumgelegen und hatte geschlafen. Ich sollte mich noch immer schonen, nur war das alles andere als einfach und gerade hielt ich es hier allein nicht mehr aus. Ansonsten würde ich noch verrückt werden und deshalb beschloss ich, mich ein wenig nach unten zu begeben. Mich einfach etwas nach draußen zu setzen, zu lesen und nebenbei das Geplauder der anderen Gäste zu vernehmen.
Ich nahm mein Handy, meinen angefangenen Harry Potter Roman und meine Schlüssel mit hinunter. Es war noch genau ein Tisch frei, dort setzte ich mich hin und begann zu lesen. Aber es wollte mir nicht gelingen, meine Konzentration komplett auf das Buch zu lenken. "Kann ich dir etwas bringen?", fragte Susanne, die plötzlich vor mir stand. "Nein Danke, gerade nicht.", erwiderte ich. "Wenn doch sag einfach Bescheid. Ich würde dir ja gerne etwas Gesellschaft leisten, aber ich hab alle Hände voll zu tun." Sie wirkte sehr gestresst. "Seid ihr immer noch unterbesetzt?", fragte ich und die Wirtin nickte. "Ja, leider.", gab sie zu und mir kam eine Idee. "Wenn ihr noch jemanden als Unterstützung braucht, ich hab Zeit.", meinte ich nun. "Das ist wirklich lieb gemeint, aber du wurdest gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen. Du solltest dich weiterhin schonen und nicht arbeiten.", tadelte Susanne mich sofort. "Es war nur ein Vorschlag.", erwiderte ich. "Schon klar, aber ich möchte nichts riskieren. Hast du überhaupt schon mal gekellnert?" Ich nickte. "Ja, schon sehr oft. Ich hab also Erfahrung, was das angeht.", erzählte ich und hoffte, sie würde ihre Meinung ändern. Aber das tat sie nur zum Teil. "Gut zu wissen. Vielleicht komme ich irgendwann doch noch auf dein Angebot zurück, wenn du dich wieder komplett fit fühlst.", versprach sie mir und ging dann wieder ihren Verpflichtungen nach.
Aber zwei Tage später klopfte es gegen elf Uhr tatsächlich an meiner Zimmertür und Susanne stand davor. "Guten Morgen.", begrüßte ich sie überrascht. "Guten Morgen, entschuldige die Störung.", erwiderte die blonde Frau. "Du störst nicht, was gibt's?", fragte ich. "Steht dein Angebot mit dem Aushelfen noch?", stellte sie eine Gegenfrage und ich nickte. "Dann müsstest du ausnahmsweise heute einspringen, wenn es dir nichts ausmacht.", erklärte sie mir. "Ganz und gar nicht, ist mir sogar eine willkommene Abwechslung." Denn natürlich zerbrach ich mir noch immer den Kopf über die Sache mit Martin und hatte auch seitdem ich aus der Klinik entlassen worden war, nicht mehr mit ihm gesprochen. Er hatte zwar versucht mich anzurufen und mir einige Nachrichten geschrieben, aber darauf hatte ich nicht reagiert. Susanne nahm mich mit nach unten und erklärte mir die wichtigsten Dinge, die es zu beachten galt.
Aber während meiner Schul- und Studienzeit hatte ich schon in vielen Gaststätten oder Cafés ausgeholfen, um mir etwas dazu zu verdienen und so klappte es auf Anhieb ziemlich gut. Hauptsächlich war ich damit beschäftigt Bestellungen aufzunehmen und diese an die Tische zu bringen, was mir viel Spaß machte. Der Kontakt mit den Gästen war endlich eine Ablenkung, die funktionierte und es strengte mich auch nicht allzu sehr an. Ab und zu musste ich mich schon mal setzen, aber eher auf Anweisung von Susanne. Sie war jedoch auch total zufrieden mit mir und so durfte ich am nächsten Tag gleich nochmals helfen.
Den Rest der Woche verbrachte ich ebenfalls mit kellnern und wurde immer routinierter. Es war ein schönes Gefühl früh aufzustehen und zu wissen, dass man eine Aufgabe hatte. Genau sieben Tage war die Auseinandersetzung mit Hans jetzt her und entschuldigt hatte er sich noch immer nicht, aber das war mir ja sowieso gleich klar gewesen. Dennoch hatte er es nicht einmal versucht und das zeigte mir nur, dass er anscheinend ein richtiger Feigling war. Zwischen Martin und mir herrschte immer noch Funkstille, zumindest von meiner Seite her und deshalb hatte er Susanne angerufen. Sie hatte ihm gesagt, es sei alles in Ordnung und so war es auch. Natürlich wollte sie erfahren, warum ich nicht mit ihm selbst sprach, aber den genauen Grund behielt ich besser für mich. Wahrscheinlich würde Andrea mich sonst verklagen, da sie ja Anwältin war, zumindest traute ich ihr das zu. Denn es wusste bestimmt noch keiner sonst Bescheid und ich würde nicht diejenige sein, die jemanden von dieser Schwangerschaft erzählte.
Ob und wann es raus kam, interessierte mich aber irgendwie trotzdem. Ob Hans genauso ein Theater abziehen würde, wenn er davon erfuhr? Würden Martin und Andrea wieder zusammen kommen und mit diesem Kind eine Familie gründen? Alles Fragen, deren Antworten mir eigentlich sonst wo vorbei gehen müssten. Doch wenn ich nachts wach lag, dachte ich darüber nach und nur am Tag konnte ich diese Gedanken verdrängen. Irgendwann jedoch würde es aufhören, ich hatte ja nicht mal eine Ahnung davon, warum es mich so beschäftigte.
Gerade hatte ich meine von Susanne aufgebrummte extra Pause abzusitzen und blätterte ein wenig in der Zeitung herum. Ich hatte beschlossen hier zu bleiben, sollte ich eine passende Wohnung und einen guten Job finden. Martin spielte bei dieser Entscheidung keine Rolle, ich fühlte mich hier einfach wohl und ich musste ja keinen Kontakt mit ihm halten. Mit einem Stift markierte ich mir Wohnungen, die ich mir demnächst ansehen wollte. Mit meinem Vermieter in München hatte ich endlich auch telefoniert und wenigstens war die Miete dank eines Dauerauftrags weiterhin überwiesen worden, so bekam ich da nicht auch noch Probleme.
"Du suchst nach einer Wohnung?" Susanne stand neben mir und hatte anscheinend einen Blick in die Zeitung geworfen. "Ja, schaden kann es nicht.", antwortete ich und strich mir wieder diese eine Haarsträhne hinters Ohr, die mich schon die ganze Zeit nervte. Allgemein störten mich meine langen Haare momentan sehr, denn selbst ein Zopf hielt sie nicht richtig zurück und außerdem lockerte er sich immer wieder aufs Neue.
"Schon fündig geworden?", fragte die Wirtin weiter und setzte sich. "Ein paar Angebote klingen wirklich gut, die werde ich mir auf jeden Fall anschauen gehen und im Klinikum Hall sind Assistenzarztstellen in der Chirurgie frei.", erzählte ich ihr. "Das hört sich für mich so an, als würdest du hier bleiben.", stellte Susanne überrascht fest. "Richtig erkannt. Ich hab jetzt schon so oft versucht von hier weg zu kommen, aber irgendetwas scheint mich immer daran zu hindern. Beim ersten Mal bin ich eine Felswand hinunter gestürzt, dann die Sache mit der Schwangerschaft, mit meinem Ex und der erneute Aufenthalt im Krankenhaus. Und mir gefällt es in Tirol, sogar sehr und warum sollte ich dann nicht bleiben."
Einen Grund gab es zwar, aber den blendete ich jetzt einfach mal aus. "Man sollte dort bleiben, wo man sich zu Hause fühlt und das scheint bei dir der Fall zu sein." Ich nickte zustimmend, Susanne lag damit nämlich erneut goldrichtig. "Aber warum möchtest du in die Chirurgie? Du bist soweit ich weiß Allgemeinmedizinerin und möchtest eine Praxis aufmachen." Mir war klar, dass das etwas verwirrend für sie sein musste. "Ich bin am überlegen, doch meinen Facharzt in Chirurgie zu machen. Wie gesagt sind da gerade Stellen in der Assistenz frei und vielleicht kann ich so meinem Vater in spätestens sechs Jahren wieder unter die Augen treten." Mir tat es wie immer im Herzen weh, wenn ich an meine Familie dachte, zu der ich keinen Kontakt hatte.
"Aber du willst doch etwas ganz anderes.", protestierte Susanne. "Ich wollte vieles in meinem Leben, Susanne. Zum Beispiel mit 30 verheiratet sein und das werde ich definitiv nicht mehr schaffen. Ich muss mich damit abfinden, dass meine ganze Lebensplanung nicht hinhaut und jetzt irgendwie improvisieren."
Ich schaute wieder auf die Zeitung vor mir, da Susanne mich mitleidig ansah und das konnte ich gerade nicht ertragen. "Vielleicht lässt sich der ein oder andere Wunsch doch noch verwirklichen, du bist schließlich noch jung. Eine leer stehende Praxis wird sich bestimmt finden und dann könntest du als selbstständige Ärztin praktizieren." Ich musste schmunzeln, denn Susanne versuchte alles, um mich aufzumuntern. Nur ihre Vorstellung hatte erneut einen kleinen Haken. "Dann aber sicherlich nicht in Ellmau, ihr habt ja schon einen Bergdoktor. Einen, der sich besonders um seine weiblichen Mitmenschen kümmert und das nicht zu knapp."
Letzteres war mir eher unfreiwillig heraus gerutscht und ich biss mir peinlich berührt auf die Unterlippe. "Tut mir leid. Vergiss besser, was ich gerade von mir gegeben habe. Das stand mir wohl kaum zu.", meinte ich, aber Susanne kicherte nur belustigt. "Irgendwie hast du damit ja nicht unrecht, also kein Problem.", antwortete sie und darüber war ich mehr als erleichtert. Da sich immer mehr Strähnen aus meinem Zopf lösten, machte ich ihn ganz auf ließ die Haare einfach offen. "Die machen momentan auch nur, was sie wollen!", schimpfte ich und die Frau mir gegenüber lachte erneut. "Komm mal mit, bevor du mir hier noch durchdrehst.", sagte sie dann und stand auf. Etwas verwirrt faltete ich die Zeitung zusammen und folgte ihr.