Kapitel 135

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Und jetzt, nachdem Martin das gesagt hatte, fiel mir genau das auch auf. Das hier war eben nicht nur die Straße nach Ellmau, das hier war der Ort, der sowohl mein Leben als auch das von Martin verändert hatte. Und wie sehr es sich noch verändern sollte, das würde ich an diesem Abend noch herausfinden.
"Stimmt.", meinte ich nun. "So hab ich das tatsächlich noch gar nicht gesehen.", gab ich zu und Martin grinste. "Ich schon. Komm mit, lass uns rüber gehen." Martin nahm mich wieder an die Hand und zog mich mit sich. Ein kurzer Blick nach links und rechts und wir eilten über die Straße. Der Asphalt war gewärmt von der Abendsonne, die langsam aber sicher unterging. Aber das störte mich nicht und Martin wohl ebenso wenig. Wir hatten so lange keine Zeit allein zusammen verbracht, es war mehr als nötig.
Wir eilten über die Straße und gingen dann den kleinen Hügel hinauf. Oben angekommen hatte man eine schöne Aussicht, so wie ich es in Erinnerung hatte. Das dachte man von unten tatsächlich nicht.
Ich lief, wie beim letzten mal als ich hier war, nach vorne an den Rand. "Bitte nicht schon wieder.", meinte Martin und ich hörte die Nervosität in seiner Stimme. "Ich wäre damals nicht gefallen, hättest du mich nicht erschreckt.", stellte ich amüsiert klar und blickte am Rand hinunter. Es war so, wie ich es in Erinnerung hatte. Es ging zwar nicht weit, dafür aber sehr steil hinunter und die Steine waren ziemlich scharfkantig. Ich wusste noch genau, welche Schmerzen es gewesen waren, dort hinunter zu stürzen.
Und noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende bringen konnte, wurde ich von Martin gepackt und wieder ein Stück nach hinten gezogen. Sein Griff war fest, es kam mir vor, als ob er fester als beabsichtigt war. "Hey, was..." Noch bevor ich den Satz beenden konnte, blickte ich in das Gesicht meines Lebensgefährten. Und ich erkannte an seinem Blick, was los war. "Bitte... nicht schon wieder!", wiederholte er. "Ist gut. Entschuldige.", sagte ich und nun wurde seine Hand um meinen Arm lockerer.
"Ich hab nicht drüber nachgedacht, dass... entschuldige.", meinte ich erneut und hatte nun verstanden, dass hier nicht mein Sturz von damals das Problem war. Jedenfalls nicht ausschließlich. Die Tränen, die Martin wieder in die Augen gestiegen waren, erzählten auch ohne Worte eine Geschichte. Eine Geschichte voller Leid, Tränen und Angst. Und ich hatte das alles innerhalb von ein paar Sekunden wieder an die Oberfläche befördert.
Das machte nun auch mir Angst. Ich wusste, dass Martin sich seit dem Unfall jede Minute sorgte und das konnte ich ihm nicht verübeln. Ich wusste aber nicht, ob ich mit dem Gedanken leben konnte, dass das jetzt für immer so war. Ein Dauerzustand, was es Martin unmöglich machen würde, ein normales Leben zu führen. Sowohl ihm, als auch mir. Und ich wusste, das es nicht so weit kommen durfte. Das würde nur neue und sehr viel tiefgreifendere Probleme für uns mit sich bringen.
"Gib mir deine Hand.", forderte ich Martin nun auf und hielt ihm meine hin. Er blickte mir irritiert an. "Komm schon.", ermutigte ich ihn und nun legte er seine Hand in meine. "Vertraust du mir?", wollte ich wissen und mein Partner nickte. "Dann zeig es mir und mach die Augen zu.", sagte ich und nach kurzem Zögern, kam Martin meiner Aufforderung nach. Ich lief daraufhin langsam rückwärts.
"Es wird nichts passieren.", versicherte ich Martin, dem ich die Nervosität deutlich ansah. "Ich möchte dir und mir nur ein Leben voller Angst ersparen. Wir könnten sterben, jetzt oder auch in ein paar Minuten. Wir wissen das doch am besten, wir werden fast täglich mit dem Tod konfrontiert."
Ich führte bis kurz vor den Absprung und ließ dann seine Hand los, nur um mich hinter ihn zu stellen. "Noch einen Schritt nach vorne.", sagte ich und Martin kam der Aufforderung nach. "Noch einen." Und wieder ging er einen Schritt nach vorne und stand nun direkt dort, wo es steil nach unten ging. Dafür war die Aussicht aber umso schöner. Man konnte von hier aus den Sonnenuntergang sehr gut sehen und ich wollte nicht, dass Martin das entging, weil er sich laufend sorgte. Dafür war das Leben zu schön.
Ich legte von hinten meine Arme um ihn und spürte, wie er nach meinen Händen griff. "Mach die Augen auf.", flüsterte ich nun und gleich darauf merkte ich, wie Martin zusammen zuckte. "Nicht nach unten schauen.", wies ich ihn an. "Nicht nach unten schauen, sondern gerade aus. Und tief durchatmen."
Er tat erneut, was ich sagte und ich merkte, dass er sich beruhigte. "Du hast in den letzten Wochen so viel durchgemacht, hast mich mit durchgezogen und alle anderen. Du hattest keine Gelegenheit dazu, durchzuatmen. Oder die Aussicht zu genießen. Tu das bitte jetzt." Ich spürte, dass Martin sich zunehmend entspannte. "Ich möchte nicht, dass du meinetwegen in ständiger Angst leben musst. Wir sind zusammen, da ist es normal, dass man sich Sorgen um den jeweils anderen macht. Das können wir auch weiterhin, nur darf es nicht so weit gehen, dass diese Sorge uns lähmt. Das Leben ist zu schön, um so etwas hier zu verpassen. Verstehst du? Lass uns versuchen, wieder zu leben und dabei auch mal etwas zu riskieren. Ohne es zu übertreiben, natürlich."
Wir standen noch eine ganze Weile so da und beobachteten, wie die Sonne allmählich wirklich hinter dem Bergmassiv verschwand.
"Besser?", wollte ich nun wissen und Martin drehte sich zu mir um, um seine Arme um mich zu legen. "Viel besser.", bestätigte er und gab mir einen Kuss. Und ich glaubte ihm, denn wenn ich eins gelernt hatte war es die Tatsache, dass Martins Augen nicht lügen konnten. Das war bei vielen Menschen so, bei manchen war es nur nicht so leicht zu durchschauen. Bei ihm konnte ich das inzwischen sehr gut unterscheiden und deuten.
"Wir sollten noch ein Stück gehen, oder? Bevor es komplett dunkel wird und wir uns noch verlaufen.", meinte Martin und ich hörte, dass er das ironisch. "Wir uns verlaufen? Du meinst, du würdest dich hier verlaufen? Das würde ich dir glauben, wenn du nicht hier aufgewacht wärst. Aber so? Ich bin mir sicher, du würdest es auch nach Hause schaffen, würde man dich im tiefsten Wald aussetzen!", stellte ich klar und wir mussten lachen. "Vielleicht nicht, wenn es wirklich der tiefste Wald ist. Aber aus dem halbtiefen ganz bestimmt."
Erneut mussten wir lachen, ehe wir Hand in Hand unseren Weg fortsetzten. Nun übernahm Martin wieder die Führung, aber ich bildete mir ein, hier doch schon einmal gewesen zu sein. Das war aber schon etwas länger her, weshalb ich mir tatsächlich auch nicht sicher war.
Bis auf zwei Leute mit Hunden kam uns um diese Uhrzeit auch keiner mehr entgegen. Die Männer hatten nicht schlecht geschaut, als sie uns in unserem Gewand gesehen hatten, aber man hatte gemerkt, dass sie sich für uns freuten und sich nicht darüber amüsierten.
Inzwischen waren wir an einem kleinen See angekommen, der in der Abendsonne wirklich wunderschön glitzerte. "Wir schaffen es noch, einmal rum zu laufen. Oder was meinst du?", fragte Martin mich plötzlich. "Meinst du echt?" Ich war, was das betraf, doch etwas skeptisch. Man konnte inzwischen fast den Weg nicht mehr erkennen, so dämmrig war es mittlerweile.
"Meine ich, ja. Lass uns wenigstens noch ein ganz kleines Stück gehen." Ich stimmte zu, da es wirklich sehr schön war, mit Martin hier entlang zu laufen. Das Gras fühlte sich sehr angenehm unter meinen Füßen an und die frische Luft tat unheimlich gut.
Es vergingen weitere 20 Minuten, die wir schweigend nebeneinander her liefen. Es war gerade nur wichtig, dass wir zusammen waren. Und was das betraf, waren wir uns auch ganz ohne Worte einig.
Inzwischen war es dunkel geworden und man sah den Weg fast gar nicht mehr. Allerdings sah ich dann etwas, das mich verwirrte. Denn ein Stück weiter weg bildete ich mir, das ich Lichter sehen würde. Und je näher wir diesen kamen, desto mehr schienen es zu werden.
"Siehst du das auch?", fragte ich Martin, denn ich wurde langsam nun doch müde und vertraute meinem Sehvermögen nicht mehr so ganz. "Ja, ich sehe es auch. Sieht aus, als würden da Kerzen brennen.", stellte Martin fest und wir liefen direkt darauf zu. Tatsächlich standen am Ufer des Sees Kerzen. Und zwar nicht nur ein paar einzelne, sondern ein ganzes Meer aus Kerzen. Es waren Teelichter in kleinen Gläsern, die über einige Meter weit aufgestellt worden waren. Ein paar bildeten sogar ein Herz.
"Oh, wow!", flüsterte ich. "Da hat sich jemand ja richtig Mühe gemacht.", meinte nun auch Martin anerkennend. "Das kommt nicht von dir?", wollte ich wissen, obwohl ich das für einen kurzen Moment geglaubt hatte. "Von mir? Wir waren die ganze Zeit zuhause, Gem. Ich kann das unmöglich organisiert haben." Und für einen kurzen Moment kaufte ich ihm das sogar ab.
"Aber schön sieht es trotzdem aus. Lass uns das mal näher anschauen, komm mit.", sagte Martin entschlossen und lief bereits los. Ich jedoch hielt inne. "Warte mal!", bat ich ihn schnell. "Was ist, wenn hier jemand irgendwas geplant hat und wir in irgendwas reinplatzen? Wir sollten weitergeben, nicht das wir bei irgendwas stören." Es sah ganz offensichtlich danach aus, dass jemand etwas größeres hier geplant hatte und ich fühlte mich tatsächlich Fehl am Platz.
Martin hingegen lief unbeirrt weiter. "Nur ein paar Minuten, dann sind wir schon wieder weg. Und kommt jemand, bekommen wir das mit Sicherheit mit. Wie war das mit das Leben genießen trotz Risiko? Fangen wir doch gleich mal hier an."
Was Martin sagte klang plausibel, weshalb ich ihm nun folgte. "Ein paar Minuten, nicht länger. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, einen Heiratsantrag zu zerstören oder so." Denn danach sah es für mich ganz klar aus.
"Nur ein paar Minuten.", versicherte Martin mir grinsend und begann plötzlich, sich die Schuhe auszutauschen. "Was machst du?", fragte ich verwundert. "Das Wasser testen.", gab mein Lebensgefährte zurück. "Und du kommst mit.", fügte er hinzu und griff nach meiner Hand. Wir liefen dann ein Stück weit in den See hinein, sodass wir beide bis zu den Knöcheln im Wasser standen. Es war eine tolle Abkühlung, denn das Wasser hatte eine angenehme Temperatur. Martin äußerte dann jedoch, dass es ihm doch zu kalt war und er verließ das Wasser wieder vor mir.
Ich sah ihn ein bisschen weiter weg gehen und während ich noch damit beschäftigt war, den See zu verlassen, war er schon ein bisschen weiter weg gegangen. Ich sah, dass er sich bückte, um etwas aufzuheben.
"Was hast du da?", erkundigte ich mich, als er zu mir ans Ufer kam, mit den Händen hinter dem Rücken. "Die hab ich gefunden. Und wer es findet, darf es behalten." Und mit diesen Worten holte Martin einen wunderschönen Strauß mit roten Rosen hinter seinem Rücken hervor.
"Wow, das ist... wir sollten wohl wirklich nicht hier sein, Martin. Da hat jemand irgendetwas geplant und wir zerstören gerade glaube ich eine ziemlich große Überraschung." Martin sah mich lächelnd an. "Du bist einfach so gutgläubig und leicht rein zu legen.", meinte er amüsiert. "Das ist natürlich Teil des Abends, Gemma. Das ist alles für dich. Für uns. Hier hat keiner etwas geplant, außer ich.", offenbarte mir Martin nun und ich konnte fast nicht glauben, was hier passierte. "So romantisch kenne ich dich gar nicht. Ein Candle-Light-Dinner, ein Meer aus Kerzen und Rosen. Man könnte glatt meinen, du würdest um meine Hand anhalten wollen."
Das klang für mich so absurd, denn eigentlich kannte Martin meine Meinung diesbezüglich. Jedoch lächelte Martin und nahm meine Hand, um mich wieder ein bisschen näher zu den Kerzen zu führen. Dort war es heller und wir konnten den jeweils anderen wieder etwas besser sehen.
"Was würdest du denn sagen, wenn es so wäre?", fragte Martin nun und ich verstand die Aussage erst nicht. "Wenn was so wäre?", wollte ich wissen und meine Stimme begann zu zittern. Ich hatte eine Voraussetzung, was er meinen musste.
Martin seufzte. "Am besten zeige ich es dir einfach, du glaubst es mir sowieso nicht, wenn ich es jetzt nicht einfach tue.", stellte er grinsend klar und ich merkte, dass er sich ziemlich nervös war.
"Wenn du was jetzt nicht einfach tust?" Meine Stimme bebte. Martin nahm daraufhin wieder meine Hand.
"Gem, du... wir hatten es von Anfang an nicht einfach. Und vor allem die letzten paar Monate haben mir gezeigt, dass ich mein Leben nur noch mit dir teilen möchte und dieser Unfall... als man mir nicht erzählen wollte, was mit dir ist und wie es dir geht und als ich nicht wusste, ob du je wieder wach wirst... Ich möchte so etwas nie wieder durchmachen müssen. Und ich möchte dich nie wieder loslassen müssen. Ich möchte jedem zeigen, dass wir beide zusammen gehören und ich möchte einmal im Leben alles richtig machen. Du bist die Liebe meines Lebens und ich glaube, das was ich jetzt tue, ist das einzig richtige. Ich habe darüber lange nachgedacht und bin immer wieder zu dem Entschluss gekommen, dass ich das tun muss. Und zwar jetzt, weil wir nie wissen können, was Morgen kommt."
Martin machte eine Pause und griff in die Jacke seines Jacketts. Ich erinnerte mich, dass er vorhin zu Hause schnell etwas eingesteckt hatte, als ich zur Küche herein gekommen war. Und ich erkannte nun, was es gewesen sein musste. Denn Martin hielt nun eine kleine Schmuckschachtel in der Hand und als er dann auch noch vor mir auf die Knie ging, begann mein Herz wie wild zu klopfen.
"Martin, ich..." Ich bekam keinen anständigen Satz zustande. Martin öffnete die kleine Box und zum Vorschein kam ein wundervoller Ring in Silber. Er funkelte im Kerzenschein und sah schon fast magisch aus.
Martin griff nach meiner Hand, die ebenfalls zitterte.
"Doktor Gemma Catherine Morrow, mein Schatz... ich möchte dich hier und heute fragen, ob du meine Frau werden möchtest?" Mein Herz schlug mir inzwischen bis zum Hals und ich hatte das Gefühl, meine Ohren würden nicht mehr richtig funktionieren. "W... wie bitte?", fragte ich den Tränen nahe. Denn niemals hätte ich heute mit einem Antrag von Martin gerechnet. "Entschuldige, ich... sag das bitte nochmal!", bat ich ihn und Martin lächelte. Ich war auf einmal so nervös, was ihm bestimmt nicht verborgen geblieben war.
"Möchtest du mich heiraten?", fragte Martin mich erneut und direkter, während er immer noch meine Hand hielt. Tränen liefen mir über die Wangen, als ich heftig zu nicken begann. "Ja!", schluchzte ich ohne zu zögern. "Ja, ich will!", betonte ich nochmals und Martin schien ein Stein vom Herzen zu fallen.
Er holte den Ring heraus und steckte ihn mir, wie es sich gehörte, an den Ringfinger. Als das geschehen war, kam Martin wieder auf die Beine und ich ließ die Rosen fallen, damit ich ihm um den Hals fallen und ihn küssen konnte. "Du bist so verrückt!", schluchzte ich. "Ich? Du hast doch ja gesagt!", entgegnete Martin und küsste mich erneut. Schlimm hob er mich hoch und wirbelte mich ein wenig herum.
Als er mich schließlich wieder auf dem Boden abstellte, nahmen wir uns ganz fest in den Arm. Hier standen wir nun inmitten von Kerzenlicht am See, nicht mehr als Freund und Freundin, sondern als Verlobte.
Und ich musste zugeben, dass das ein wundervolles Gefühl war. Unbeschreiblich wundervoll.

Die BergdoktorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt