Auch den Tag darauf tat ich eigentlich nichts anderes als schlafen. Anscheinend hatte ich einiges nachzuholen, nachdem ich endlich von diesem Mann los gekommen war und die Schmerzmittel trugen zudem noch bei. Manchmal musste ich mich immer noch übergeben und bekam durch die gebrochenen Rippen noch ziemlich schlecht Luft, wenigstens hatte ich inzwischen etwas Übung mit den Krücken.
Einige Male wachte ich nachts von Alpträumen geplagt auf und sah mich dann erstmal total panisch im Zimmer um, aber immer war ich allein. Ich ließ nun immer die Nachttisch an und fühlte mich irgendwie wie ein kleines Kind, dass Angst vor Monstern im Kleiderschrank hatte. Eigentlich hätte ich selbst schon in geschlossenen Räumen Panik bekommen müssen, aber hier fühlte ich mich einigermaßen sicher und schloss die Tür sogar zweimal ab. Ich schlummerte noch friedlich, als es plötzlich laut klopfte und ich senkrecht im Bett saß.
"Au!" Durch die viel zu schnelle Bewegung beanspruchte ich meine Rippen zu sehr und mir blieb wieder die Luft weg, was ich erst wieder unter Kontrolle bringen musste. Dann griff ich nach meinen Krücken, stand auf und lauschte. Erneut klopfte es und ich überlegte was ich tun würde, sollte es wirklich Stefan sein der mich hier aufgespürt hatte.
"Wer ist da?", fragte ich schließlich mit zitternder Stimme und wartete angespannt auf eine Antwort. "Zimmerservice!", rief derjenige und ich erkannte ihn sofort. Also lief ich zur Tür und sperrte auf. "Guten Morgen, Herr Doktor. Was verschafft mir die Ehre, um diese frühe Uhrzeit?" Es war nämlich erst acht Uhr in der Früh.
"Guten Morgen, ich wollte dich abholen. Wir haben heute eine Verabredung, schon vergessen?", wollte er mit einem Grinsen im Gesicht wissen. "Nein, aber so früh? Ich wäre heute Mittag schon irgendwann vorbei gekommen." Das war geflunkert und Martin durchschaute es sofort. "Ich glaub dir kein Wort und jetzt mach dich fertig, ich warte draußen beim Auto. Und außerdem hast du bestimmt noch nichts gegessen, demnach bist du wenigstens für die Untersuchungen nüchtern." Ich seufzte genervt. "Na gut, gib mir zehn Minuten.", bat ich. "Einverstanden.", antwortete er grinsend und ich machte einfach die Tür zu.
Ich schaffte es wirklich mich in den zehn Minuten fertig zu machen und nun saß ich wieder zusammen mit Martin im Auto. Die Fahrt dauerte nicht lange und endete vor einem sehr schönen Haus. Würde ich es nicht wissen, hätte ich es nie für eine Arztpraxis gehalten. "Das ist also deine sagenumwobene Praxis.. ist ganz hübsch.", sagte ich, nachdem wir ausgestiegen waren. "Nur 'ganz hübsch', mehr nicht? Gib doch einfach zu, dass du sie wahnsinnig toll und atemberaubend findest.", erwiderte Martin und war vollkommen von sich überzeugt. "So übertreiben musst du jetzt auch nicht. Aber ja, sie gefällt mir." Wenn ich mir die Praxis so ansah, dachte ich wieder über meinen großen Traum nach, den ich schon jahrelang hatte. Eine eigene Arztpraxis auf dem Land, das wäre genau das richtige für mich. Aber im Moment brauchte ich daran überhaupt nicht zu denken, erst musste ich mein Leben wieder in den Griff bekommen und mir überlegen wo ich überhaupt in Zukunft leben wollte. In meiner jetzigen Heimatstadt München konnte ich nicht bleiben, dass war sicher.
"Bist du noch anwesend?", fragte Martin plötzlich und wedelte mir mit der Hand vor dem Gesicht herum. "Wie? Oh, entschuldige. Ich war im Gedanken, was hast du gesagt?" Das war mir jetzt etwas peinlich. "Ich habe gefragt, ob wir dann mal rein gehen wollen.", erklärte Martin belustigt. "Natürlich, sind ja nicht zum Spaß hier.", meinte ich daraufhin und wir lachten. Dann gingen wir auf den Eingang zu, aus dem nun ein älterer Herr im kam. "Guten Morgen, Roman.", grüßte Martin ihn. "Morgen, Martin. Ist sie das?", fragte dieser Roman und Martin nickte. "Das ist sie, ich geh aber schon mal rein." Ich blieb erstmal stehen und war ein wenig verwirrt. "Martin hat mir schon erzählt, dass er wieder mal Blödsinn gemacht hat.", meinte er nun, anscheinend merkte er mir meine Verwirrung an. "Allerdings, er hat mich ziemlich erschreckt und ich stand eben an einer unvorteilhaften Stelle." Der ältere Mann lachte. "Typisch Martin. Ich bin übrigens Doktor Roman Melchinger.", stellte er sich nun vor und wollte mir die Hand geben, was aber gerade nicht ging. "Doktor Gemma Morrow, freut mich.", stellte ich mich nun ebenfalls vor.
"Oh, sie sind also eine Kollegin. Mit einem sehr schönen Namen, wenn ich das einmal anmerken darf.", meinte Roman und ich lachte. Bis jetzt hatte ich immer Komplimente für meinen Namen bekommen, was ich manchmal wirklich nicht verstehen konnte. "Dürfen sie, Danke. Aber ich sollte wohl lieber mal rein gehen, Doktor Gruber wird sonst noch ungeduldig." Dr. Melchinger stimmte mir zu und ging gleich mit hinein.
Martin nahm mich dann gleich mit in das Behandlungszimmer, wo ich mich auf die Liege setzen sollte. Das war zwar nicht ganz einfach, aber ich schaffte es und sah mich ein wenig um. Modern war es hier nicht gerade eingerichtet, dennoch fand man hier alles was zu einer ordentlichen Praxis gehörte. Martin suchte sich ein paar Utensilien zusammen und setzte sich dann auf einen Hocker. "Dann wollen wir mal anfangen, zuerst schaue ich mir die Kopfwunde an.", erklärte er und zog sich Handschuhe an. Ganz vorsichtig machte er nun das Pflaster ab und begutachtete die Wunde genau. "Sieht doch schon ganz gut aus.", stellte er dann zufrieden fest und begann sie zu desinfiziert. Ich verzog etwas das Gesicht, weil es höllisch brannte.
"Hast du noch sehr starke Kopfschmerzen, musstest du dich übergeben oder wird dir plötzlich schwindelig?", fragte Martin und nahm ein neues Pflaster zur Hand. "Die Schmerzen sind nicht schlimmer geworden, vorgestern und gestern musste ich zwar brechen, aber schwindelig wird mir nicht.", antwortete ich wahrheitsgemäß. Martin nickte und fuhr mit der Untersuchung fort. Diese dauerte ungefähr eine dreiviertel Stunde, aber dafür machte er das auch sehr gründlich. Ich dachte eigentlich er wäre nun fertig, stand aber auf und holte ein paar neue Dinge.
"Was wird das?", fragte ich, da ich sofort erkannte das er mir wohl Blut abnehmen wollte. "Ich nehme dir noch Blut ab und lasse es untersuchen, dazu sind die in der Klinik ja nicht gekommen. Sicher ist sicher." Martin wollte schon meinen Arm nehmen, den ich jedoch sofort weg zog. "Das ist bestimmt nicht nötig.", versicherte ich ihm. "Doch, doch das ist nötig. Jetzt sag nicht, du hast Angst.", witzelte er, lag damit aber genau richtig. "Hab ich aber und das nicht gerade wenig.", gab ich gezwungenermaßen zu.
"Echt jetzt? Du als Ärztin hast Angst vor Nadeln?", fragte Martin ungläubig. "Ja! Ich weiß das hört sich total unglaubwürdig, aber es ist so!", beteuerte ich ihm und er musterte mich ganz genau. "Du sagst wirklich die Wahrheit.", merkte Martin nun. "Aber ich bin ganz vorsichtig, du wirst fast überhaupt nichts merken." Das er versuchte mir die Angst zu nehmen, fand ich total lieb. Ich seufzte und hielt ihn meinen unverletzten Arm hin, sah aber bewusst weg und kniff zusätzlich noch die Augen zu. Ich zitterte schon, während Martin erstmal nur die Stelle desinfizierte. "Na gut, aber bitte wirklich ganz vorsichtig. Ich kann es nicht haben, wenn Ärzte so ruppig sind!", stellte ich klar, aber da spürte ich schon wie er mir einen Tupfer auf die Einstichstelle drückte.
"Schon fertig?", fragte ich verblüfft, denn ich hatte überhaupt keinen Stich gespürt. "Ja, schon fertig.", erwiderte Martin amüsiert. "Das war jetzt irgendwie.. schöner als sonst." Nun übernahm ich das komprimieren der Wunde, während er alles wieder weg räumte. "Das Geheimnis ist tief, aber nicht zu tief.", erklärte er mit einem Augenzwinkern und ich lachte leicht. "Werd's mir merken.", versprach ich und er klebte mir nun noch ein Pflaster auf die Stelle an meinem Unterarm. "Gibt es vielleicht noch irgendwelche bedeutende Krankheiten, von denen ich wissen sollte?", fragte Martin nun. "Von meinem angeborenen Herzfehler vielleicht, aber damit hab ich schon jahrelang keine Probleme mehr." Ich überlegte weiter, mir fiel aber nichts weiter mehr ein. "Ansonsten gibt's da nichts mehr." Martin ging zum Schreibtisch und notierte sich etwas. "Gut, dann bräuchte ich noch den Namen deines Hausarztes." Den konnte ich ihm gleich nennen.
"Was meinst du, wie lange der Gips dran bleiben muss?" Was er mir antworten würde, ahnte ich natürlich schon. "Drei Wochen, Minimum.", war die Antwort. "Na super. So lange werde ich wohl doch hier bleiben müssen." Martin meinte dann noch er würde die Blutprobe sofort in's Labor schicken und wir konnten in Kürze mit den Ergebnissen rechnen. Dann wollte er mich zum Wilden Kaiser zurück fahren, draußen wartete aber erstmal eine blonde Frau auf ihn.
"Entschuldige, aber darum muss ich mich jetzt kümmern. Setz dich am besten zu Roman da auf die Bank, ich möchte nicht dass du mit deinem Bein zu lange stehst." Das klang schon beinahe wie ein Befehl, aber er meinte es ja nur gut. Während er auf die Frau zu ging, lief ich hinüber zu der besagten Bank. Ich war jetzt schon froh, wenn ich den Gips wieder los hatte und auch alle anderen Verletzungen verheilt waren.
"Komm setz dich zu mir, Kindchen. Das wird wahrscheinlich etwas dauern und mit deinem Bein ist sitzen viel angenehmer.", meinte nun auch Roman und diese Einladung nahm ich nur zu gerne an. "Tut es noch sehr weh?", fragte Roman und ich schüttelte den Kopf. "Mit Schmerzmitteln ist es auszuhalten, aber eigentlich wollte ich meinen Urlaub hier genießen. Und da hat mir der verehrte Herr Doktor einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht.", meinte ich lachte leicht. "Was Frauen betrifft ist er nicht gerade ein Profi.", sagte er nun. "Warum? Sind etwa schon mehrere wegen ihm von irgendwelchen Felsvorsprüngen gefallen?", fragte ich erschrocken.
"Nein, nein. Aber anscheinend hat er bis jetzt noch keine gefunden, die ihn auf Dauer glücklich macht.", erzählte Roman und mein Blick fiel auf Martin, der sich augenscheinlich mit der blonden Frau stritt. "Wer ist sie?" Eigentlich war ich nicht so neugierig, aber das interessierte mich jetzt wirklich. "Andrea, seine Freundin.", erwiderte der ältere Arzt neben mir. "Sieht so aus, als ob sie streiten.", sprach ich meinen Gedanken nun laut aus. "Ist eine etwas längere Geschichte und schwer zu erklären." Roman sprach in Rätseln und es ging mir eigentlich auch überhaupt nichts an.
Andererseits war ich schon ein wenig traurig, dass Martin vergeben war, aus welchem Grund auch immer. Ich sah wie Andrea Martin etwas übergab, dann ging sie zu ihrem Auto. Martin wollte sie noch aufhalten, aber sie fuhr einfach weg. Er sah ihr noch ein paar Augenblicke nach, dann kam er zu uns. "Wir können jetzt los.", offenbarte er mir und ich verabschiedete mich von Roman. Martin wirkte nach dem Gespräch mit dieser Andrea abwesend und nachdenklich, er tat mir schon fast leid.Es herrschte weiterhin Stille im Auto, nur die Musik aus dem Radio war zu hören. Als plötzlich ein bestimmtes Lied gespielt wurde, nämlich 'Marry you' von Bruno Mars, beugte ich mich schnell nach vorne und schaltete auf einen anderen Kanal.
Dabei bewegte ich mich abermals zu schnell und ich schnappte nach Luft. "Mach langsam, bevor du wieder Atemnot bekommst.", tadelte Martin mich sofort und ich lehnte mich vorsichtig wieder in den Autositz zurück. "Ja, Herr Doktor.", erwiderte ich und blickte aus dem Fenster. "Hat dir das Lied nicht gefallen?", fragte er nun. "Doch, früher schon.", antwortete ich nachdenklich. "Und jetzt etwa nicht mehr?" Ich überlegte, ob ich es ihm wirklich erzählen sollte. "Nein, jetzt nicht mehr. Mein Freund.. ich meine Ex-Freund, hat mir bei dem Lied einen Heiratsantrag gemacht. Das war bevor.. bevor er sich so verändert hat." Ich rieb mir kurz die Augen, da mir schon wieder die Tränen kamen. "Er hat dir das angetan, oder? Die blauen Flecken und die gebrochenen Rippen.", ahnte Martin nun und ich nickte. "Ja und deshalb bin ich auch abgehauen."
Irgendwie tat es gut, endlich mit jemandem darüber zu reden. "Also doch eine überstürzte Flucht und kein Urlaub.", schlussfolgerte er jetzt. "Richtig. Aber ich bin hier um zur Ruhe zu kommen, deshalb belassen wir es bitte dabei das ich hier Urlaub mache. Wenn ich zurück in München bin, kommt noch genug auf mich zu." Bei diesen Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. "Zeig dieses Arschloch auf jeden Fall an!", sagte Martin aufgebracht. "Mach ich, obwohl ich nicht glaube das es jetzt noch etwas bringen wird." Daraufhin war es wieder erstmal leise.
"Meine Verlobte hat gerade auch mit mir Schluss gemacht.", lenkte Martin aber dann auf ein neues Thema hin. "Das tut mir leid.", antwortete ich ehrlich und er schüttelte nur den Kopf. "Muss es nicht, das war vorauszusehen."
Martin hielt vor dem Wilden Kaiser. "Ich sag dir Bescheid, sobald die Ergebnisse da sind.", versprach er. "Danke, aber ich glaube nicht das da etwas auffälliges gefunden wird." Nur das ich damit komplett daneben lag, sollte ich am nächsten Tag schon erfahren.